
Gastkommentar von Timo Lommatzsch:
Warum Muslime gegen Terror demonstrieren sollten
Nur 2000 Menschen haben am Wochenende in Köln gegen den islamistischen Terror protestiert. Eine verpasste Chance für die Krisenkommunikation des Islam, findet W&V-Gastkolumnist Timo Lommatzsch.

Foto: Orca van Loon
Eines gleich vorweg: Ich bin Kommunikationsberater. Ich bin weder Soziologe, Jurist, Politiker, Terrorexperte, Ethiker noch Religions- oder Gesellschaftskritiker. Folglich betrachte ich in diesem Text die ganze Thematik rein aus der kommunikativen Perspektive und gebe für diese eine nüchterne, objektive Erläuterung und Handlungsempfehlung.
Natürlich ist kein Muslim dieser Welt verpflichtet sich von Terror zu distanzieren. Es gibt keine moralische Verpflichtung hierfür, keinen ethischen "Rechtfertigungsdruck" wie Jakob Augstein korrekt schreibt. Es gibt aber, und das will ich in den folgenden Absätzen kurz darlegen, aus kommunikativer Sicht einen enormen Handlungsdruck, einen medialen "Rechtfertigungsdruck" – und genau aus diesem heraus scheint es derzeit elementar für Muslime und muslimische Verbände in der westlichen Welt, ein deutliches Zeichen zu setzen.
Das Image des Islam nimmt Schaden
Die Aufgabe von Public Relations und Krisenkommunikation ist es, Meinungsbildungsprozesse und Image positiv im Sinne der Aufgabe zu gestalten, Vertrauen zu gewinnen, Themenhoheit herzustellen und damit nicht zuletzt die "Licence to operate", also die "gesellschaftliche Betriebslizenz" des Auftraggebers, zu erhalten.
Denn wenn Image und Vertrauen in der Wahrnehmung entscheidender Bezugsgruppen und/oder der breiten Öffentlichkeit massiv gestört bzw. negativ besetzt werden, wenn die ureigenen Themen von anderen, gar feindlichen Kräften im öffentlichen Diskurs gestaltet und getrieben werden, dann wird der eigene Handlungsrahmen immer weiter eingeschränkt, bis hin zur "Betriebsunfähigkeit".
Genau das passiert in den letzten Jahren mit dem Islam, dem muslimischen Glauben, in den westlichen Industrieländern. Die mediale Berichterstattung, die breite öffentliche Wahrnehmung und der gesellschaftliche Diskurs sind fast ausnahmslos von negativen Berichten und Bildern bestimmt.
Die mediale Inszenierung des Islam ist hierbei in den letzten Jahren geprägt von negativen, bedrohlichen, aggressiven Bildern und Botschaften. Die Symbole des Glaubens werden zunehmend negativ besetzt. Den Meinungsbildungsprozess gestalten und treiben Terrorgruppen und politische Agitatoren aus diversen Spektren. Diese kämpfen um die Themenhoheit, während muslimische Verbände und Organisationen, die muslimische Zivilgesellschaft, ihnen diesen Diskurs, die Gestaltung der Meinungsbildungsprozesse in der breiten Öffentlichkeit nahezu komplett überlassen.
Es geht um die Themenhoheit
Die Folge ist, dass das Image des Islam und des muslimischen Glaubens in den letzten Jahren massiv gelitten hat. Vertrauen wird entzogen und die "Licence to operate", die freie selbstbestimmte Glaubensausübung, massiver denn je angegriffen und eingeschränkt – gesellschaftlich, politisch und rechtlich. Wollen Muslime also in westlichen Industrieländern ihren Handlungsrahmen erhalten und weiter so frei und selbstbestimmt wie möglich ihren Glauben praktizieren, ist es dringlich erforderlich, breitenwirksam professionell zu kommunizieren, aktiv die Meinungsbildungsprozesse der Öffentlichkeit – und aller relevanten Teilöffentlichkeiten – zu gestalten und die Themenhoheit zurückzugewinnen.
Damit will ich nicht sagen, dass die muslimische Zivilgesellschaft und Verbände nicht schon viel machen, auch kommunikativ. Wenn man danach sucht, findet man viele Maßnahmen, Demos, Gesprächskreise, Initiativen, Pressemitteilungen, Stellungnahmen, Tage der offenen Türen und so weiter. Das Problem ist, man muss danach suchen und es hat keine breitenwirksame Wahrnehmung und Relevanz.
Menschen sind (nicht nur) in Zeiten der Krise emotional, von Bildern getrieben. Sie lieben möglichst einfache Gut-/Böse-Geschichten. Sie suchen und brauchen Vereinfachung, Schubladen, emotionale Bindung. Wenn ich also in der Krise im gesellschaftlichen Rahmen die "License to operate" erhalten will, muss ich das Thema einfach, emotional und breitenwirksam im öffentlichen Diskurs besetzen. Ich muss eindrucksvolle, positive Bilder schaffen, die simple, klare Botschaften vermitteln. Ich muss vertraute Anknüpfungspunkte geben, Vertrauen, Sympathie und Identifikation ermöglichen. Und genau dabei helfen, nicht ausschließlich, aber als wichtige solide Plattform, starke Bilder wie z. B. einer Demonstration von 100.000 Menschen am Brandenburger Tor.
Natürlich stoppt so eine Demo, so eine PR-Kampagne für den Islam keinen Terrorismus. Sie beeinflusst aber die Meinungsbildung, das Image, das Vertrauen in Medien, Politik und Gesellschaft der westlichen Länder. Sie schafft positive Bilder und Assoziationen, erkämpft so ein Stück Themenhoheit zurück und trägt damit entscheidend dazu bei, die "Licence to operate" zu erhalten.
Für alle, denen meine Ausführungen zu abstrakt sind, habe ich noch eine kleine frei erfundene Geschichte, die veranschaulicht, was ich meine und worum es hierbei geht:
In einer Stadt gibt es einen Fußballverein mit über hundertjähriger Tradition. Der Verein ist nicht besonders erfolgreich, jenseits der Stadt kennt man ihn kaum. Er spielt zweite, meistens dritte Liga. Er ist Teil der Stadt, er ist da, passt sich ins Bild ein und fällt nicht weiter auf. Nun ist seit ein paar Monaten eine Schlägertruppe aktiv, die sich als Fans eben dieses Vereins identifizieren. Sie randalieren vor, während, nach den Spielen. Sie sind dabei stets vermummt, tragen schwarze Jacken mit den Vereinslogos und grölen Vereinsgesänge. Sie nutzen Social Media aktiv, um auf sich und ihre Aktionen aufmerksam zu machen. Erste Berichte in Szene- und Lokalmedien spornen die Truppe an, ihre Aktionen, nennen wir es ruhig Verbrechen, werden immer spektakulärer. Sie freuen sich über die zunehmende mediale Berichterstattung und die Medien greifen diese skandalösen Bilder und Berichte gerne auf.
Hooligans des Glaubens - ein Vergleich
Der Vereinschef, der Trainer und die übrigen Fans distanzieren sich nicht öffentlichkeitswirksam von diesen Schlägern. "Warum auch? Das sind doch keine Fußballfans! Das hat mit uns, mit Fußball und dem Verein nichts zu tun. Das sind Kriminelle, die sich ein Ventil suchen, und wir sind die Leidtragenden, da sie ihre Straftaten in unseren Kutten begehen! Und meistens kriegen wir auch noch die ersten Schläge von ihnen ab!" Und natürlich haben sie damit Recht.
Aber die Schläger machen weiter, die Medien berichten weiter. Nahezu jedes Wochenende erscheinen angsteinflößende Bilder und Artikel mit skandalösen, grausamen Headlines in Medien, Foren und auf Facebook –immer in Verbindung mit dem Vereinslogo und den Vereinsfarben. "Aber das sind doch nicht wir, das sind doch 20, vielleicht 30 Spinner, die ich hier im Stadion noch nie gesehen habe", denken Vereinsführung und Fans. Es gibt zwar interne Beratungen, Gesprächsrunden, Aushänge und Ansagen im Stadion und Personalaufstockung – doch die breite Öffentlichkeit bekommt davon nichts mit.
Langsam merkt man die Veränderung. Die Leute in der Stadt, Fans anderer Clubs und die Öffentlichkeit in anderen Städten schauen die normalen Fans des Vereins anders an, gehen auf Distanz. Es wird getuschelt, es fallen Sprüche. Auch in "normalen" Medienberichten zu dem Verein, ja manchmal sogar zu der Stadt, wird jetzt immer wieder auf die Gewalt der Schlägertruppe Bezug genommen.
Die Stadt war in den meisten Schlagzeilen überregional überhaupt erst gerade wegen dieser Krawalle präsent und es schlägt sich auf das Image nieder, ja es prägt zunehmend das Image der Stadt. Es schaukelt sich hoch, Menschen in Kneipen oder abends auf der Straße bekommen Angst, wenn sie das Vereinslogo sehen, bekennende Fans des Vereins werden wegen der primären Assoziation mit Gewalt nicht als Mitarbeiter eingestellt oder als Mieter akzeptiert, Eltern machen sich sorgen, wenn Kinder Fans werden wollen usw..
Die Stadt gibt dem Verein diverse Auflagen. Obwohl objektive Zahlen dagegen sprechen, ist die Macht der subjektiven Angst aufgrund der medialen Bilder und Inszenierung so groß, dass besondere Sicherheitsregeln umgesetzt, Spiele verlegt und Kameras installiert werden, Sonderzahlungen fallen an usw.
Am Ende hilft nur das der Verein, das Team, die echten Fans sich umfassend an die breite Öffentlichkeit wenden. Sich öffentlich von den Schlägern distanzieren, sie zutiefst verurteilen, Schweigeminuten einlegen, öffentlichkeitswirksame Stadionverbote verhängen, ein Festival und eine Kampagne gegen Gewalt organisieren, eine Sonderausstellung im Museum zur Tradition des Vereins umsetzen – und somit dafür sorgen, dass ihr Logo und die Vereinsfarben wieder positiv in Medien und Stadtbild auftauchen, mit Kindern, Prominenten, emotionalen, sympathischen Geschichten.
Und trotzdem verhängt der DFB noch ein paar drakonische Strafen, nicht weil sie gegen Gewalt unter Fans helfen, sondern allein um sich selbst auch deutlich zu distanzieren und seine Licence to operate zu erhalten.
Über den Autor: Timo Lommatzsch ist Geschäftsführender Partner bei Orca van Loon Communications in Hamburg. Er berät Unternehmen, Organisationen sowie Bundes- und Landesministerien in Bezug auf ihre Kommunikation, Reputation, Digitalen Wandel und Transformation. Gemeinsam mit Sachar Klein produziert er außerdem den Podcast Talking Digital.