Frank Thelen: Da muss ich Herrn Vogel zustimmen. Wir sind nach dem Land der Dichter und Denker und Pionieren wie Ferdinand Porsche, Werner Siemens oder Robert Bosch zu Weltmeistern der Optimierung geworden. Sich jedes Jahr um zwei bis drei Prozent zu verbessern, das hat in den letzten Jahrzehnten hervorragend funktioniert. Aber das gehört der Vergangenheit an. Neue Technologien wie künstliche Intelligenz, 3D-Druck oder Cloud Computing erlauben es, Produkte auf den Markt zu bringen, die um ein Vielfaches besser sind. Nehmen wir die Beispiele Nokia versus iPhone oder BMW/Mercedes versus Tesla. Diese "disruptive DNA", also ein Produkt zu wagen, das zehnmal besser ist, fehlt uns einfach in Deutschland. Aber genau diese DNA wird die nächsten Jahrzehnte bestimmen.

Muss einem das Angst machen? Herr Thelen, Sie sagen: "Die einzige Chance von Unternehmen wird in Zukunft sein, dass sie die Bereitschaft in sich tragen, sich bei Bedarf selbst zu zerstören – um zu überleben". Das ist schon viel verlangt, oder?

Frank Thelen: Zu scheitern ist bei uns einfach keine Option. Ein großes Unternehmen wie beispielsweise die Deutsche Post/DHL würde es niemals wagen, 100 Mio. Euro oder mehr in ein riskantes Projekt zu investieren. Jeff Bezos von Amazon hingegen traut sich so etwas. Mal liegt er falsch, wie man es beim Firephone gesehen hat. Er hat mehrere Hundert Millionen Dollar in den Sand gesetzt. Aber oftmals liegt er richtig und generiert das nächste Milliardengeschäft innerhalb von Amazon. Wir dürfen Fehlentscheidungen oder Niederlagen nicht feiern, aber es muss eine Option sein, die man dann reflektiert. Ja, auch ein großer Konzern kann im schlimmsten Fall mal keinen Gewinn erwirtschaften, weil ein großes und riskantes Projekt nicht funktioniert hat. Aber es nicht zu versuchen, garantiert ein langsames Sterben der Unternehmen.

Stephan Vogel: Völlig richtig. Der Zug in die Zukunft nimmt Fahrt auf, Deutschland aber steht mental auf der Bremse. Symptomatisch für den Stand unseres gesellschaftlichen Bewusstseins: 64 Prozent der deutschen Lehrer raten ihren Schülern davon ab, ein innovatives Unternehmen zu gründen. Die Zahl der Selbstständigen in Deutschland stagniert nicht umsonst seit Jahren auf konstant niedrigem Niveau. Außerdem empfinden 57 Prozent der Deutschen die Geschwindigkeit als zu hoch, mit der neue Geschäftsideen entwickelt werden und sich Produktwelten verändern.

Viele Mittelständler würden ihren Thesen allerdings widersprechen. Michael Bolle, zum Beispiel, Chef des Bosch-Forschungszentrums Renningen, hält viel auf die Innovationskraft der Unternehmen in Deutschland, vor allem im Südwesten. Tatsächlich sind ja einige mittelständische Unternehmen Hidden Champions, Weltmarktführer in ihrem Bereich. Und Deutschlands Wirtschaft steht in der Welt glänzend da. Wofür braucht es da eine Disruption?

Stephan Vogel: Ja, wir haben viele Erfinder. Aber wir haben keine Innovatoren. Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel: 82 Prozent der Patente, die man für das autonome Fahren braucht, liegen in Deutschland. Aber wir haben keinen Elon Musk, der das Thema treibt. Deshalb sind wir auf dem Weg, Zulieferer der Zukunft zu werden. Im EY-Ranking der wertvollsten Marken wird Deutschland nach hinten durchgereicht, nur noch fünf sind überhaupt unter den Top 100. Das höchstplatzierte deutsche Unternehmen ist SAP auf Rang 60. Die Spitzenplätze belegen Unternehmen wie Apple, Google, Amazon, Microsoft. Bei der digitalen Revolution sitzt Deutschland auf der Zuschauerbank. Ursache für das schlechte Abschneiden Deutschlands ist übrigens die 'starke Abhängigkeit von klassischen Industriebranchen sowie der Mangel an jungen Technologieunternehmen'.

Frank Thelen: Es gibt immer Ausnahmen und gerade Bosch als private Firma traut sich auch, in Innovationen zu investieren. Unser Mittelstand mit unseren Hidden Champions ist weltweit einmalig und neben der Autoindustrie einer der wichtigsten Pfeiler unseres Wohlstandes. Aber in den nächsten Jahren benötigen wir ein zehnmal größeres Wachstum an Innovationen und Marktkapitalisierung. Nehmen wir als Beispiel Facebook, die durch Innovation und aggressive Übernahmen (What's App, Instagram, Oculus) unsere sozialen Kanäle besitzen. Facebook hat von Januar bis Mai alleine 100 Mrd. an Kapitalisierung zugelegt. Nennen Sie mir nur einen Champion aus Deutschland der in zehn Jahren 100 Milliarden gewonnen hat.

In der Bewertung der Lage sind Sie sich also einig. Wie aber sieht es mit den Lösungsvorschlägen aus? Der ADC schlägt vor, die Rolle der Kreativen in der deutschen Wirtschaft zu stärken. Herr Vogel, wie stellen Sie sich das konkret vor? Kreative haben bei den großen Wirtschaftslenkern ja überhaupt nicht das Standing, in eine solche Position zu rutschen.

Stephan Vogel: Blicken wir nach Amerika: Steve Jobs war schlau genug, eng mit seinem Designer Jonathan Ive und seinem Agenturkreativen Lee Clow zusammenzuarbeiten. Kia war schlau genug, den deutschen Designer Peter Schreyer ins Board zu holen. Schauen Sie an die Spitze deutscher Unternehmen. Das sitzen meist Techniker und Finanzer, selten Marketer. Aus solchen Systemen wird nicht der Challenger des iPhones kommen. Es wäre ein guter erster Schritt, wenn die deutschen Autohersteller wenigstens ihre Chefdesigner ins Board holen.

Und Sie Herr Thelen: Ist das die Lösung, Werber in die Unternehmen zu holen?

Frank Thelen: Das kann schon ein Ansatz sein. Man braucht sich nur die Vorstellung eines neuen iPhones anschauen und mit der des neuen BMW 7er oder der S-Klasse zu vergleichen. Wir müssen lernen, unsere Produkte mit Begeisterung zu präsentieren. Für mich ist aber etwas anderes viel entscheidender: die Technologie und der Wille, immer wieder Risiken einzugehen. Welcher deutsche CEO kommt morgens in sein Büro und fragt sich: Warum sind wir morgen bedeutungslos? Was und wer wird unsere aktuelle Cashcow ersetzen? Jeff Bezos fragt sich das täglich.

Stephan Vogel: Die Lösung liegt meiner Ansicht nach im Diskurs. Wenn man Ingenieure allein an einem Problem arbeiten lässt, entwickeln sie oft Technologie, die zeigt, was möglich ist. Ohne sich zu fragen, ob das wirklich jemand braucht. Hier kann der frühe Diskurs mit Kommunikationsleuten helfen, einfache, intuitive, faszinierende und deshalb differenzierende Lösungen zu finden. Dazu muss man Kreative nicht mal einstellen. Was spricht dagegen, dass die F&E mal direkt mit den Kreativen zusammenarbeitet – am besten mit dem Marketing. Warum machen wir Kreativität nicht zum Pflichtfach für Ingenieure an den Hochschulen? Den deutschen Kampf-und-Krampf-Fußball haben wir doch auch in den letzten zehn Jahren auf ein kreativ hohes Niveau gekriegt. Warum sollten wir das nicht mit der Wirtschaft versuchen?

e42-Chef Frank Thelen: "Ein Produkt zu wagen, das zehnmal besser ist, diese disruptive DNA, fehlt uns in Deutschland."

e42-Chef Frank Thelen: "Ein Produkt zu wagen, das zehnmal besser ist, diese disruptive DNA, fehlt uns in Deutschland."

Alles eine Frage des Willens also. Gibt es denn schon gute Beispiele dafür?

Stephan Vogel: Das Nike Fuelband von RGA ist natürlich das Paradebeispiel. Aber auch in Deutschland arbeiten Tekkies und Kreative zusammen, um Wearables und intelligente Mecosysteme für Kunden zu entwickeln. Ogilvy & Mather (Stephan Vogel ist Chief Creative Officer der Agentur; Anm.d. Red.) hält zum Beispiel ein Patent für einen intelligenten Hundefressnapf, der die Futtermenge und das Bewegungspensum des Tieres misst, koordiniert und mit dem Bestellsystem des Händlers verbindet. Grabarz & Partner hat für Volkswagen Nutzfahrzeuge ein digitales Trackingsystem für Fuhrunternehmen entwickelt, das die Flottenbewegung transparent macht und optimiert.

Frank Thelen: BMW hat mit der i-Serie vieles richtig gemacht. Wirklich von neu gestartet, eigenes Gebäude, neue Technologien wie Carbon und neues Design. Am Ende hat sich dann aber doch wieder die starke Zentrale eingemischt und das Produkt zerstört. Ein gutes Beispiel ist T-Mobile USA. Hier lässt der Mutterkonzern einem kreativen und risikobereiten CEO freie Hand. Er bereitet seiner Mutter sicher einige schlaflose Nächte, aber der Mut wird belohnt. T-Mobile USA ist eine 10x-Erfolgsgeschichte.

Das macht Hoffnung. Wie wird Deutschland in 20 Jahren aussehen, wenn das so weitergeht?

Stephan Vogel: (lacht) Wir werden einen Hersteller haben, der mit seinen Liquid Organic Devices alle Smartphone-Hersteller vom Markt gefegt hat. Und einen Find Engine Provider, der die neuronalen Retrieval-Prozesse des Gehirns, vulgo: Erinnerung, direkt mit allen zertifizierten Wissensplattformen wie Wikipedia koppelt. Der Albtraum für Google.

Frank Thelen: In den nächsten zehn Jahren wird der Computer intelligenter sein als wir, fast jeder wird Lilium-Privatjet (einer der Kunden von e42, Anm.d.Red.) fliegen und der Unterschied zwischen virtueller und echter Realität wird kaum zu spüren sein. Quanten-Computing wird die 100-fache Rechenleistung bereitstellen. Für mich ist dann die Frage: Ist Deutschland Spieler oder Zuschauer bei dieser Revolution?!

Interview: Conrad Breyer


Conrad Breyer, W&V
Autor: Conrad Breyer

Er kam über Umwege zur W&V. Als Allrounder sollte er nach seinem Volontoriat bei Media & Marketing einst beim Kontakter als Reporter einfach nur aushelfen, blieb dann aber und machte seinen Weg im Verlag. Conrad interessiert sich für alles, was Werber- und Marketer:innen unter den Nägeln brennt. Seine Schwerpunktthemen sind UX, Kreation, Agenturstrategie. Privat engagiert er sich für LGBTQI*-Rechte, insbesondere in der Ukraine.