Kommentar:
Die Bigotterie der Werbeindustrie: Der Attitude-Behavior-Gap
Marketingverantwortliche wissen um ihre gesellschaftliche Verantwortung für die Medienvielfalt. Gleichzeitig fließt ein Großteil der Werbebudgets in Tech-Plattformen, die genau diese Werte untergraben. Wo ist Responsible Media? Die Branche begeht systematische Selbsttäuschung, predigt Haltung, knickt aber bei der Budgetverteilung ein.

Foto: Will Francis/Unsplash
Es ist ein Ritual, das sich auf Branchenkonferenzen mit schöner Regelmäßigkeit wiederholt: Marketingverantwortliche nicken ernst, wenn es um gesellschaftliche Verantwortung geht. Sie bekennen sich zu Medienvielfalt, zu Nachhaltigkeit, zu demokratischen Werten. Und dann überweisen sie einen Großteil ihrer Werbebudgets an genau jene Tech-Plattformen, die das Gegenteil dessen verkörpern, was sie gerade noch so inbrünstig beschworen haben. Den Attitude-Behavior-Gap, den wir von den Verbraucher:innen kennen, gibt es auch im Business-Kontext. Der Verband Die Mediaagenturen prognostizierte für 2025, dass alleine Google, Meta und Amazon fast die Hälfte der gesamten Netto-Werbeinvestitionen in Deutschland erhalten werden.
Er führt dazu, dass beispielsweise bei den Medientagen München viel darüber gesprochen wurde, wie die Medienvielfalt erhalten bleiben kann. Norman Wagner, einer der Mitinitiatoren der Initiative 18, nahm insbesondere die Mediaplanung in die Verantwortung: "Wir sollten nicht nur über Purpose-Kampagnen sprechen, sondern auch über Purpose Budgets." Die Initiative 18 verfolgt das Ziel, eine vielfältige, freie und nachhaltige Medienlandschaft als 18. Ziel der Sustainable Development Goals (DSGs) der Vereinten Nationen zu verankern.
Vermarkter kritisieren unter anderem, dass Plattformen wie Google oder Meta ihre Erfolgsmessung von Kampagnen selbst vornehmen. Zur Erinnerung: Google beendete schon vor fünf Jahren die Zusammenarbeit mit der AGF, der Arbeitsgemeinschaft für Fernsehforschung, in der es darum ging, gemeinsame Bewegtbildstandards zu entwickeln. Auch die AGOF, die Standards in der Wirkung von Online-Kampagnen setzt, muss ohne Google und Meta auskommen.
Aber die Messbarkeit ist nicht das einzige Problem. Je mehr Werbegelder in die Plattformen wie TikTok oder Instagram gesteckt werden, umso mehr unterstützt die Werbebranche jene Medien, die die gesellschaftliche Spaltung vorantreiben. Das ist zwar vielen Marketingentscheider:innen bewusst, sie entscheiden sich dennoch oft lieber für die schnelle Performance. Stefan Mölling von RMS bringt es auf den Punkt: "Wir haben es hier mit einer Bigotterie zu tun." Das ist noch höflich formuliert. Treffender wäre vielleicht, die Werbeindustrie betreibt systematische Selbsttäuschung im industriellen Maßstab.
Die Mechanik dieser Heuchelei ist so simpel wie beschämend: Dieselben Unternehmen, die in Deutschland aufwendige Purpose-Kampagnen über Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung fahren, finanzieren mit ihren Werbegeldern Plattformen, die Desinformation monetarisieren, demokratische Prozesse untergraben und ihre eigenen Regeln für Erfolgsmessung schreiben. Meta, Google und Co. sind Richter, Jury und Begünstigte in einem System, das für deutsche Medienunternehmen strukturell nachteilig ist – und die Werbeindustrie zahlt bereitwillig dafür.
"Werbung ist nicht neutral", sagt Norman Wagner. Die Frage ist, ob die Werbeindustrie bereit ist, die Verantwortung für ihre Finanzströme zu übernehmen und sich dadurch auch brad-safe Umfelder zu erhalten.
Erstmals vergibt der Deutsche Mediapreis in diesem Jahr einen Award in der Kategorie Responsible Media. Die bisherige Kategorie Green Media wird damit weiter gefasst – es geht nicht nur um ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch um Media-Entscheidungen, die soziale und gesellschaftliche Verantwortung tragen.
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