Gastbeitrag :
Agenturmodelle: Mehr Dorf, weniger Burg
Die Arbeit in Agenturen muss sich nachhaltig verändern. Was sie dabei von Dörfern, Amazon und General Electric lernen können, erläutert Marcel Müller-Siegert von Mirum.
Die Arbeit von Kreativagenturen ist wertvoll für Unternehmen, doch ihr altbekanntes Agenturmodell wurde noch nie stärker in Frage gestellt als derzeit. Um innovativ und exzellent in der Umsetzung sein zu können, muss sich die Arbeit in und von vielen Agenturen nachhaltig verändern, so Marcel Müller-Siegert. Der Chief Strategy Officer der international tätigen Digitalagentur Mirum erklärt anhand einer Parabel, warum Agenturen einen Dorfcharakter erhalten oder erzeugen sollten, um den immer komplexeren Anforderungen langfristig gerecht werden zu können.
Im vergangenen Sommer verbrachte ich einige Tage in Schottlands Hauptstadt Edinburgh. Wenn man die Stadt erkundet, thront allgegenwärtig Edinburgh Castle über den Straßen und Häusern. Die eindrucksvolle Burg symbolisiert – nicht nur für Fans der Serie Game of Thrones – alles wofür das Mittelalter steht: Eine massive Festung mit starrer Gesellschaftsordnung, aber geringer Anpassungsfähigkeit.
Dieser Eindruck wird kontrastiert durch das lebhafte, vielfältige, kulturell attraktive – kurz, das moderne Edinburgh zu Füßen der Burg. Edinburgh Castle ist ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten – ein Ort, der heute in erster Linie von Touristen angesteuert wird. Unser Leben indes ist lange schon nicht mehr geprägt von Burgen, in die wir uns zurückziehen und abschotten können. Das wirkliche Leben spielt sich unten in der Stadt mit ihren knapp 500.000 Einwohnern ab. Hier gibt es keine Mauern mehr, die offenen Austausch hemmen und die Bewohner daran hindern, flexibel auf neue Trends und Entwicklungen zu reagieren.
Als ich also in Edinburgh über diese Entwicklung in der Menschheitsgeschichte nachdachte, musste ich diese Erkenntnis unweigerlich auf die Business- und Agenturwelt übertragen. Passend dazu fiel mir ein Zitat aus dem Harvard Business Review ein: “Sustainable competitive advantage no longer arises exclusively from position, scale, and first-order capabilities in producing or delivering an offering.” Unternehmen und Agenturen, die nur auf diese Faktoren blicken, sind die Burgen der Neuzeit.
Moderne Unternehmen agieren wie Dörfer – nicht wie Burgen
Auch Amazon wirkt auf den ersten Blick wie eine Burg: Gewaltige Umsatzzahlen, gut eine halbe Million Mitarbeiter und eine scheinbar unendliche Produktpalette. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Amazon einem modernen Dorf gleicht. Denn Amazon bietet ein Umfeld, in dem die "Bewohner" improvisieren sowie schnell und flexibel auf neue Herausforderungen reagieren können.
Das lässt sich am Beispiel Smart Home gut illustrieren: Alexa und Echo fungieren als Bindeglied zum Kunden. Daneben jedoch hat Amazon einen Kosmos an weiteren Produkten und Dienstleistungen kreiert – vom Temperaturregler über Sicherheitsfunktionen wie Kameraüberwachung und Zugangsregelung bis hin zum Entertainment der nächsten Generation. Auf Basis agiler Prozesse, einer hohen Anpassungsfähigkeit und der Bereitschaft, externen Partnern Zutritt zum eigenen System zu gewähren, nimmt Amazon so von Anfang an enormen Einfluss auf die Marktentwicklung.
General Electric erlaubt Mitbestimmungsrecht
Interessanterweise machen sich auch Traditionsunternehmen, deren Stärke sich in der Vergangenheit durch ein Burg-ähnliches Verhalten auszeichnete, diese Flexibilität zu eigen. General Electric (GE) ist ein solcher Fall: GE ist gut 130 Jahre alt. Angetrieben von einer seit jeher auf Innovationen ausgerichteten Unternehmenskultur erfindet sich das Unternehmen aktuell mal wieder neu. So hat sich GE – eigentlich als DAS Industrieunternehmen schlechthin bekannt – im vergangenen Jahrzehnt zu einer der weltweit führenden Schmieden für Softwareentwicklung gewandelt. Zuletzt investierte GE mehr als eine Milliarde US-Dollar in ein Software-Exzellenzzentrum. Hier arbeitet das Unternehmen an Cloud-Lösungen und der digitalen Vernetzung und entwickelt gleichzeitig die Unternehmenskultur und -struktur weiter.
Eine besondere Stärke von GE: Das Unternehmen hört den eigenen Mitarbeitern ganz genau zu. So arbeitet eine Gruppe an Millennials innerhalb der gewaltigen Organisation permanent daran, Strukturen zu überprüfen, zu analysieren und anzupassen. Auch Crowdsourcing ist bei GE ein wichtiges Instrument. Um im Bild der Burgen und Dörfern zu bleiben, kommt bei GE die Dorfversammlung regelmäßig zusammen und ermöglicht ihren Bewohnern mit Blick auf die Organisationsentwicklung ein beachtliches Mitbestimmungsrecht.
Der Dorfcharakter macht Agenturen flexibler und agiler
Was bedeutet das nun für moderne Agenturen? Nun, zunächst einmal, dass es auch für die großen Burgen unter den Agenturen immer wichtiger wird, sich die Mentalität eines kleinen Dorfes anzueignen. Moderne Agenturen verfügen über eine flexible Organisation, können sich dank agiler Prozesse permanent an neue Entwicklungen (und die exotischsten Kundenwünsche) anpassen und stellen zentrale Kompetenzen schnell zur Verfügung.
Mit genau diesen Hintergedanken wurde Mirum gegründet: Als ein Unternehmen, das aus elf Agenturen weltweit entstanden ist, arbeiten wir flexibel sowie funktions- und grenzüberschreitend miteinander.
Wir sind überzeugt, dass wir den Dorfcharakter unserer Agentur erhalten müssen, um nicht irgendwann wie Edinburgh Castle zu werden: Groß und imposant, aber ohne echtes Leben – eine Touristenattraktion aus der Vergangenheit. Unser Ziel ist es, so lebhaft und wandelbar zu sein wie Edinburgh, das auch heute noch, Jahrhunderte nach Stadtgründung, Menschen aus aller Welt anzieht und fasziniert.
Über den Autor:
Marcel Müller-Siegert, Chief Strategy Officer bei Mirum, hat in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Kunden dabei unterstützt, zielgruppenorientierte Content-Strategien zu entwickeln und digitale Ökosysteme aufzubauen. Marcel Müller-Siegert begann seine Karriere in der Online-Marktforschung bei Harris Interactice in Paris und bei der Agentur Butter in Düsseldorf bevor er 2009 seine eigene Digitalagentur gründete. Seit 2015 ist er bei der WPP Agentur Mirum in der Strategieberatung tätig und leitet seit 2017 das Düsseldorfer Büro der Agenturgruppe.