Gastbeitrag:
Darum braucht die Digitalbranche ein starkes Europa
Meinungsfreiheit, E-Cmmerce, Künstliche Intelligenz, Mobilität, Demokratie: Stefan Gessulat nennt 5 Gründe, die für ein starkes Europa sprechen.
Wenige Stunden vor der Europawahl in Deutschland gibt es erste Überraschungen. So liegen wohl die Sozialdemokraten in den Niederlanden vorne. Der befürchete Rechtsruck war offenbar ausgeblieben. Dennoch ist noch völlig offen, wie sich die Machtverhältnisse im Parlement verändern werden. Mit Blick auf die Digitalbranche plädiert Agenturchef Stefan Gessulat für ein starkes Europa. Und nennt 5 Gründe dafür.
Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit muss jeden Tag neu erkämpft werden. Das vergisst man gerne, wenn man in Europa lebt. Meinungsfreiheit ist der Grundbaustein jeder Demokratie. Ohne Meinungsfreiheit gar keine Freiheit. Das Netz ist gelebte Meinungsfreiheit. Vieles wie Reisen buchen oder Einkaufen wird durch das Netz bequemer. Aber für die freie Meinungsäußerung bedeutet das Netz einen echten Quantensprung. Denn kein anderes Medium hat es Menschen egal welcher Herkunft, welcher Religion und welcher politischen Ausrichtung jemals so einfach gemacht, ihre eigene Meinung ungestört zu äußern. Schon wird dies von manchen als Zumutung oder sogar als Bedrohung empfunden. So gerät die freie Meinungsäußerung im Netz auch bereits wieder in Bedrängnis. Umso wichtiger ist es, jene Kräfte zu stärken, die sich für ein freies Internet für jeden einsetzen.
E-Commerce
Kein einziger globaler Player im Ecommerce stammt aus Europa geschweige denn aus Deutschland. Die absolut bewundernswerte Erfolgsstory von Zalando in Deutschland spielt international betrachtet nicht die geringste Rolle. Denn globale Player wie Amazon und Alibaba, die zum Teil an einem einzigen Tag mehr Umsatz machen als Zalando im ganzen Jahr, reißen auch in Europa (fast) alles an sich. Und auch wenn es einzelne (wie die OMR-Legend Sven Schmidt) fordern: Europa kann nicht dem Beispiel Chinas folgen und eigene Digital-Angebote groß machen, indem es seinen Markt gegen andere Anbieter abschottet. Aber ein starkes Europa kann sehr wohl dafür sorgen, dass globale Riesen geltendes Recht hier nicht nach eigenem Gutdünken strapazieren. Wenn Europa seine eigenen Spielregeln klug definiert und dann auch konsequent gemeinsam umsetzt, ist schon viel gewonnen.
Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz hebt digitale Anwendungen auf das nächste Level und wird damit zum Dealbreaker unserer Zukunft. Daher stehen auch hier Giganten wie Google mit beidem Füßen auf dem Gaspedal. Aber bei künstlicher Intelligenz geht es auch stark um Grundlagenforschung. Und die findet (zum Glück) nach wie vor zu weiten Teilen in (freien) Universitäten und staatlichen Forschungseinrichtungen statt. Leider gelten europäische Universitäten im internationalen Vergleich bis auf wenige englische Ausnahmen (Oxford, LSE) als abgehängt. Wer zu künstlicher Intelligenz auf höchstem Niveau forschen möchte, muss Europa immer häufiger verlassen und in die USA oder nach Asien auswandern. Der Deutsche Rasmus Rothe, der in Oxford studiert und in Berlin das KI-Startup Menratix gegründet hat und von Forbes zu den Top 30 under 30 gerankt wird, bildet leider eine traurige Ausnahme.
Mobilität
Nichts verändert die Mobilität der Menschheit nachhaltiger als das Internet. Egal ob Uber, AirBnb oder Booking.com - sie alle wurden erst durch das Internet möglich. Immerhin schickt sich hier ein einziges europäisches Internet-Unternehmen und dazu auch noch ein deutsches an, im globalen Mobilitätsmarkt nennenswert mitzumischen: Flixbus. Das Münchner Startup wagt es seit kurzem sogar, in den USA gegen die weltberühmten Greyhound-Busse anzutreten. Aber so eine internationale Expansion kostet viel Geld. Viel mehr Geld, als der deutsche oder auch europäische Kapitalmarkt bereitstellen kann. Folglich sucht Flixbus auch in Amerika nach neuen Investoren. Wenn es europäischen Banken, Börsen und anderen Kapitalgebern nicht gelingt, auf globaler Ebene mitzuhalten, werden Startups gezwungen, Europa zu ganz verlassen - oder Investoren wie der japanischen Softbank mit ihrem gigantischen 100 Milliarden Dollar-Fond die Türen weit zu öffnen.
Demokratie
Auch wenn Meinungsfreiheit Netz wie im wahren Leben nicht immer leicht auszuhalten ist - die große Gefahr für die Demokratie droht weniger von Einzelnen als von organisierter Seite, wenn über Soziale Netzwerke gezielt und oft verdeckt Kampagnen gegen den politischen Gegner gesteuert werden. Dass russische Trolle dies mit dem Ziel tun, unsere Gesellschaft zu spalten, spricht sich zum Glück langsam herum. Dass der Brexit wohl auch digital voran getrieben wurde, überrascht kaum jemandem. Aber dass auch Google die strengere europäische Auslegung des Urheberrechts vor allem bei seiner Tochter YouTube wohl massiv über PR-Agenturen torpediert hat, dürfte den meisten entgangen sein. Derlei politische Kampagnen sollten auf gar keinen Fall als Vorwand dienen, die freie Meinungsäußerung im Netz einzuschränken. Sie sollten viel mehr als dringende Aufforderung verstanden werden, mehr echte Digital-Experten für Politik, Justiz, Polizei aber auch für die Wirtschaft zu gewinnen, auf nationaler wie europäischer Ebene, um mit den hier bereits geltenden Gesetzen, dieses wunderbare freie und demokratische Europa vor seinen Feinden jedweder Couleur zu schützen.
Stefan Gessulat ist Inhaber der Digital- und Kreativ-Agentur Gessulat + Gessulat. Die Agentur mit Sitz in München betreut vor allem in den Bereichen Employer Branding und Digital-Strategie Kunden wie die Porsche Holding und die Volkswagen Group.