Regierungskrise:
Markenkern vs. Verantwortung: Werber-Stimmen zum Jamaika-Aus
Sieg des Brandings über die Staatsräson: Christian Lindner und die FDP haben Jamaika platzen lassen und sehen das wohl als Coup. Doch das Risiko für die Partei ist hoch.
Nicht nur für Politikstrategen, sondern auch für Markenexperten bot sich in der vergangenen Nacht ein faszinierendes Schauspiel. Mit seinem denkwürdigen Auftritt als Jamaika-Terminator ("Es ist besser nicht zu regieren als falsch zu regieren") geht FDP-Chef Christian Lindner voll ins Risiko. Mit Blick auf seine Person, die Partei - aber auch mit Blick auf das Land.
Das sagen Werber zum Scheitern der Jamaika-Verhandlungen:
Ronald Focken, Geschäftsführer Serviceplan-Holding:
"Christian Lindner geht mit der FDP ein hohes Risiko ein. Durch die Art der Kommunikation entsteht der Eindruck, dass die FDP nicht kompromissbereit genug war und somit nicht im Sinne des Staates und damit auch der Bürger agiert hat. Den Wählern ist völlig klar, dass jede Partei Federn lassen muss. Der Kommentar der FDP-Spitze, dass sie jetzt eine putzmuntere Oppositionsarbeit machen wollen, ist nicht sonderlich förderlich, da sich viele FDP-Wähler nun die Frage stellen werden, ob sie ihre Stimme von vornherein einer Oppositionspartei geben wollten. Die FDP hat sehr stark von den Wechselwählern partizipiert und geht jetzt ein hohes Risiko ein, einen Teil dieser hart gewonnen Wählerschaft wieder zu verlieren. Der Markenkern der FDP ist verständlicherweise die eine Seite der Medaille, die andere Seite der Medaille ist ihre staatspolitische Verantwortung."
Stefan Wegner, Geschäftsführer Scholz & Friends Agenda:
"Der FDP war offenbar sehr daran gelegen, das 'Fähnchen im Wind'-Image ein für allemal loszuwerden. Das ist ihr eindrucksvoll gelungen. Unsicher ist, gegen welches Bild in der Öffentlichkeit sie dieses Image eintauscht. Die Wähler sind nach ersten Umfragen unentschieden, ob der Verhandlungsabbruch ein Zeichen fester Überzeugung oder nur verantwortungsloses Hasardeurtum ist. Die Meinungsbildung wird bis zum Tag der wahrscheinlichen Neuwahlen fortgesetzt werden. Aber absehbar ist, dass keine der beteiligten Parteien ohne Schaden aus den Sondierungen hervorgehen wird und dass das Vertrauen in die Politik weiter leidet."
Hans Langguth, Geschäftsführer Zum goldenen Hirschen:
"Hinterher ist man immer schlauer. Dabei hätte man ahnen können, dass Christian Lindner die FDP wie ein Start-up führt. Quasi als (Neu-)Gründer und Allein-Unternehmer hat er ihr ein neues Image und mit Hilfe einer gelungenen Heimat-Kampagne auch ein neues Markenbild verpasst. Da passen zähe Verhandlungen und schmerzhafte Kompromisse schlecht. Entsprechend entsetzt muss er am Wahlabend gewesen sein, als ihn die SPD-Absage an die Große Koalition in die Jamaika-Falle zwang. Aus der hat er die FDP in letzter Sekunden noch befreien können. Das sah dann entsprechend bemüht aus und so bleibt fraglich, ob sich der gewünschte Erfolg am (Wähler-)Markt einstellt. Freilich haben es ihm viele andere Sondierer auch leicht gemacht. Jenseits der freundlichen Winkebilder vom Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft und unverbindlicher Talkshowauftritte tobte der Kampf um Kompromisse wie eh und je. Ritualisiert, halb-öffentlich, zäh. Text-Bild-Schere nennt man das wohl. Zur feinen Ironie der Geschichte gehört nun bspw., dass der nächtliche Showdown Union und Grüne näher bringt, die vorher um jede Position erbittert gerungen haben. Und plötzlich erscheint sogar die Große Koalition wieder als gangbare Alternative, die eben noch abgewählt schien. Verrückt."
Thomas Eickhoff, Geschäftsführer Grabarz & Partner:
"Dass Koalitionsgespräche scheitern, liegt in der Natur der Sache. Koalition bedeutet ja, Kompromisse machen zu müssen, bedeutet Aufeinanderzugehen. Wenn man diese mit unverrückbaren Positionen beginnt, so wie das Herr Dobrindt und andere oft getan haben, dann hätte man das Ergebnis vorausahnen können. Warum dieses Ergebnis aber trotzdem so lange gedauert hat, bleibt unverständlich. Natürlich habe ich mir etwas anderes gewünscht. Und natürlich träumt man davon, dass nicht Parteiinteressen im Vordergrund stehen, sondern das Interesse des Landes. Denn viele Probleme benötigen die Anstrengung aller, unabhängig von der parteilichen Ausrichtung. Genau dieses parteiliche Geschacher führt letztlich zu Frust - zu dem Wunsch, das System aufzusprengen. Wer die Nutznießer sind, ist ja auch klar. Aber diese Warnsignale bleiben augenscheinlich ungehört. So gibt es, meiner Meinung nach, keine Politikverdrossenheit, sondern eine wachsende Parteienverdrossenheit. Und so fürchte ich insgeheim Neuwahlen, weil wir schon wieder nicht wissen, was wir denn überhaupt wählen sollen. Als Ausweg bleibt dann meist das geringste Übel oder der sympathischste Kandidat. Eine richtige Zukunftsperspektive für unser Land eröffnet das aber nicht. Ich denke, für die Zukunft hilft nur eine Reform der Demokratie. Unbedingt lesenswerte Ideenansätze liefert dazu David Van Reybrouck in seinem Buch 'Gegen Wahlen'."
Andreas Winter-Buerke, Geschäftsführer Kolle Rebbe:
"Ich finde es eigentlich ganz sympathisch, wenn Menschen zugunsten ihrer Überzeugung auf Macht verzichten. Ganz gleich, welcher Partei sie nahestehen. Wenn man sich in unserer Branche für einen Etat verbiegt oder selbst untreu wird, geht das nie lange gut. Aus dieser Perspektive ist die Entscheidung gegen Jamaika vielleicht verständlich."