Die spontane Idee aus dem Team, am Montag dabei zu sein, rannte nicht nur bei mir offene Türen ein. Intern zog die Idee schnell Kreise, wurde zu Absprachen, Reiseplanungen, Plakatentwürfen, Abwesenheitsnotizen. Wir bereiteten ein Statement im Namen von TLGG vor – für alle relevanten Kanäle, Pressemitteilung inklusive. 

Denn das war mir, das war uns wichtig: als TLGG laut dabei zu sein, als Unternehmen Haltung zu zeigen, uns zu positionieren und andere mitzunehmen. Wir wollten Positionierung fordern und inspirieren, die Hemmschwelle senken. Und das unter anderem mit der in diesen Tagen offenbar extremen Haltung "Der Hitlergruß ist nicht okay". Eine Haltung, der sich auch die Berliner Druckerei Pinguin Druck anschloss, die uns die Herstellung unserer Plakate und Sticker kostenlos überließ – "Hättet ihr euch früher gemeldet, hätten wir noch viel mehr machen können." Aber so ist das mit der Spontaneität.

Unternehmen sind heute Teil des öffentlichen Diskurses. Egal, wie man dazu steht: Unternehmen und Marken haben Anteil an der Gestaltung unserer Welt, sie prägen Haltungen, sie bieten und unterstützen Plattformen. Sie kommunizieren, bieten Leistungen an, unterstützen offen oder verdeckt NGOs, Parteien und Institutionen, sie beziehen Positionen zu Fragen wie Gerechtigkeit, Inklusion, Demokratie, sie gestalten ihre eigene Unternehmenskultur.

Und auch ihr Schweigen prägt den Diskurs. Wir wollten nicht schweigen, und wir wollten die, die uns in so vielen Punkten ähnlich und in Partnerschaft oder Konkurrenz verbunden sind, nicht schweigen lassen: Positioniert euch! 

Wir sind jung, aber nicht zu jung für die Erinnerung an Mölln, Solingen, Hoyerswerda, an das Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen. Wir sehen die Parallelen zu heute und wir sehen auch, dass es 2018 an vielen Stellen schlimmer ist als 1992. Und wenn und weil wir wollen, dass es an mindestens genauso vielen Stellen besser wird, braucht es Lautstärke, Leuchtfeuer, Präsenz: Positioniert euch! 

Das bedeutet vor allem ein Ende der Zurückhaltung. Ich habe ganz persönlich viel positive Resonanz von Führungskräften aus großen Unternehmen, Entscheidern großer Marken bekommen – doch von tollen Ausnahmen abgesehen gab es da wenig Bereitschaft zur klaren Markenhaltung. Die Begründung geht meistens in die Richtung, Politik doch außen vor lassen zu wollen, die eigene Marke damit nicht zu beschweren – als wäre der Entschluss zu schweigen keine politische Entscheidung.

Andere wollen sich nicht dem Verdacht der Selbstdarstellung, der Positionierung zu PR-Zwecken aussetzen. Und natürlich bot unsere großformatige Präsenz auf dem Platz an der Johanniskirche auch Anlass zur Kritik: "Dass nicht mal so eine Veranstaltung ohne Selbstdarstellung irgendeiner Marketingagentur ablaufen kann."

So reiste das TLGG-Team in Chemnitz an.

So reiste das TLGG-Team in Chemnitz an.

Darauf gibt es zwei Antworten. Zum einen möchte ich den in Chemnitz Kool Savas zitierenden KIZ-Rapper Maxim zitieren: "Wo ist jetzt der Diss, ich peil’s nicht mal?" Denn zum anderen: Wie soll denn lautstarke Positionierung ohne Selbstdarstellung funktionieren? Wie ein "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" ohne Personalpronomen? Wichtiger und stärker als alle Bedenken erschien mir dieser Satz aus unserem Statement vom Freitag: "Die Zeit des stillen Vertrauens in die gute Gesellschaft ist vorbei." Wir müssen Position beziehen, wir müssen laut und anwesend, wir müssen klarer Absender sein. Warum sollte das für uns, euch, Sie weniger gelten als für Casper und Marteria?

#wirsindmehr war sicher keine bis ins letzte Detail über Kritik erhabene Veranstaltung. Auch unser Auftritt dort kann es in seinem "Hau-ruck, das ist jetzt wichtig" nicht gewesen sein. Aber es war ein starker, lauter, großer Anfang, der jetzt nächste Schritte braucht: neue Positionen, neue Dialoge, gemeinsame Schritte zu einem kulturellen Konsens.

Denn mit dem Blick auf die aktuellen Fronten, auf die Art und Weise der Diskussionen, auf Kommentarrituale und Eskalationen ist #wirsindmehr für uns vor allem diese Idee: #wirsindmehr als das. Wir können mehr leisten und erreichen, wir sind mehr als Fronten und Rhetorik. Doch der Dialog dazu braucht Teilnehmer und die Karte des hochneutralen Schweigens wurde schon zu oft gespielt.

Positioniert euch!

So hatte sich Fränzi Kühnes Agentur im Vorfeld im Social Web positioniert:

Selbst im Video von Spiegel Online stach die TLGG-Präsenz heraus:

Ein Ziel hat das Konzert auf jeden Fall erreicht: #wirsindmehr hat zahlenmäßig deutlich mehr Menschen auf die Straße gebracht als die Demonstrationen und Märsche der Rechten in der Stadt. Dafür  der Dank der Offiziellen:

Auch die Anteilnahme im Netz war groß, die Rede ist von fast einer Million Abrufe bisher. Wer #wirsindmehr nochmals sehen möchte - hier das Viereinhalbstunden-Werk:

Update: Auch andere Musiker schließen sich mittlerweile dem #wirsindmehr-Aufruf an. So hat Helene Fischer die Kritik an ihrem Schweigen offenbar zu Herzen genommen. Bei dem Konzert in Chemnitz hatte unter anderem Songwriter Bosse gefordert, dass sich mehr erfolgreiche Musiker wie Max Giesinger, Mark Forster oder eben Helene Fischer zu Wort melden sollten.

Bei einem Konzert in Berlin hat die erfolgreiche Schlagersängerin ihre Fans dazu aufgerufen, ein Zeichen gegen Gewalt und Rassismus zu setzen. "Ich äußere mich nicht oft zu politischen Dingen, gebe nie politische Statements, denn meine Sprache ist die Musik", sagte Fischer in Berlin. Doch davon machte sie nun eine Ausnahme: "Und deswegen heute Abend, jetzt und hier gemeinsam mit euch: Wir setzen auch ein Zeichen. Erhebt gemeinsam mit mir die Stimmen: gegen Gewalt, gegen Fremdenfeindlichkeit", sagte sie am Dienstagabend auf der Bühne der Mercedes Benz-Arena, wie in einem Video zu sehen ist. 

Wenige Stunden vor dem Auftritt hatte die 34-Jährige sich auf Instagram und Facebook zu den ausländerfeindlichen Übergriffen in Chemnitz geäußert. "Wir können und dürfen nicht ausblenden, was zur Zeit in unserem Land passiert, doch wir können zum Glück auch sehen wie groß der Zusammenhalt gleichzeitig ist - das sollte uns stolz machen", schrieb Fischer Stunden vor dem Konzert.

Vereinzelt wurde die "Atemlos"-Sängerin auch direkt kritisiert: "Sehr geehrte Helene Fischer, ich persönlich würde es krass gut finden, wenn Sie im Lauf der nächsten Tage eine Lücke in Ihrem Terminkalender finden könnten, um ein Konzert gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Chemnitz zu geben", schrieb die Streetart-Künstlerin "Barbara" in einem Statement, das auf Facebook tausendfach geteilt wurde. 

Auch Mark Forster zeigte auf Instagram derweil seine Solidarität mit #wirsindmehr. (dpa)


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Autor: W&V Redaktion

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