Bevor wir aber soweit sind, ist es hilfreich zu verstehen, dass Schrift eine starke, unmittelbare Wirkung auf ihre Betrachter hat. Diese kann dazu verwendet werden, um laut, leise, spielerisch, ernsthaft oder in irgendeiner anderen Tonalität zu sprechen. Nicht ohne Grund wird Jim Williams' These aus seinem Buch "Type Matters!" gerne zitiert – "Schrift ist die Kleidung der Worte" –, woraus folgt, dass sie die Wirkung des Geschriebenen befördert.

# Eine gute Schrift ist Spezialistin

Eine Botschaft glasklar zu vermitteln heißt zunächst mal, eine Schrift zu finden, die mühelos zu lesen ist. Das ist tatsächlich eine Stufe schwieriger, als einen Text leicht verständlich zu formulieren. 

Wenn es um präzise Kommunikation geht, sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Die Wahl der Schrift mag ein naheliegender Startpunkt sein, doch zuvor sollte man sich Gedanken über die Punktgröße bzw. die optische Größe der Zeilen machen, den Raum drumherum (Zeilenbreite), den Zeilenabstand und natürlich die Zielgruppe: jung, alt, erfahren im Lesen, etc.

Während für einige Jobs ein klare Typografie wichtig ist, ist sie für andere unerlässlich: etwa im medizinischen Bereich und bei Medikamenten, wo sich die Leser auf unmissverständliche Anweisungen verlassen müssen.

Neuartige Umgebungen, wie Virtual Reality und Augmented Reality, stellen ebenfalls höhere Anforderungen, damit Verzerrungen oder Störungen ausbleiben und die Menschen den Text lesen, verstehen und darauf reagieren können. 

# Eine gute Schrift erzählt Geschichten

Schriften agieren an der spannenden Schnittstelle von Nutzen und Ästhetik. Sie gehören zur Werkzeugkiste der Designer, reichen aber in ihrer Wirkung weit über das Gestalterische hinaus: Es liegt in ihrer Hand, eine starke Reaktion auszulösen. 

Dies gilt insbesondere für Displayschriften, die im Gegensatz zu Textschriften die Fähigkeit haben, Aufmerksamkeit zu erregen, an die Grenzen der Lesbarkeit zu stoßen und den Betrachter zu faszinieren. Nicht selten kann ihr Konnotation zu einem Stil oder einer Ära eine starke Erinnerung auslösen, die einen in ein bestimmtes Jahrzehnt versetzt, eine Emotion oder ein Echo auslöst. 

Hierzu gehört auch, dass Displayschriften mehr Verzerrungen und Texturen aushalten. Lesetexte dagegen müssen selbst unter schwierigen Bedingungen funktionieren, wobei Lesbarkeit immer an erster Stelle steht.

Aber wenn es um Schautexte geht, sind Experimenten und Spielereien keine Grenzen gesetzt – weder mit der Schrift, noch mit den Erwartungen und Interpretationen der Verbraucher.  

# Eine gute Schrift ist ein Familienbetrieb

Ein funktionierendes typografisches System ist wie eine Familie. Und wie im echten Leben, weisen deren Mitglieder unterschiedliche Formen und Talente auf. Während sich die Arbeit im Displaybereich meist auf ein oder zwei Einzelschnitte beschränkt, bestehen Schriftfamilien aus vielen Mitgliedern, die so zusammenspielen, dass verschiedene Umgebungen, Aufgaben und Tonalitäten abgedeckt werden.

Ein solches Schriftsystem ist unerlässlich, wenn es um Markenführung geht, bei dem die Schrift über viele Begegnungspunkte hinweg funktionieren und diverse Herausforderungen meistern muss.

Die einfachste Familie umfasst 4 Schnitte und hat alles, um ein Word-Dokument zu bauen: Regular, Italic, Bold und Bold Italic. Die Aufgaben der meisten Designer reichen weit darüber hinaus, was eine größere Schriftfamilie voraussetzt, typischerweise mit 10 bis 20 Varianten. Während die Schnitte je nach Bedarf subtil moduliert werden, bleiben konsistente Stimme und Identität erhalten. Diese Freiheit des typografischen Ausdrucks ist unerlässlich, wenn es um nuancierte Details geht oder bereits beim Zusammenspiel von Headline und Subline. 

Die hohe Schule der Typografie bedient sich sogenannter Superfamilien oder Schriftsippen, die 40 und mehr Schnitte aufweisen und bisweilen sogar mehr als eine Klasse (Serif, Sans, …). Die Erfindung der Superfamilie wird oft Adrian Frutiger zugeschrieben, der seine Univers als kompletten Werkzeugkasten für professionelle Designer anlegte, der alle essenziellen Strichstärken und Breiten abdeckte.

Frutiger hat vorgemacht, wie man die DNA einer Schrift definiert, um darauf aufbauend ein System zu entwickeln, das über alle Klassen, Breiten und Strichstärken hinweg konsistent kommuniziert. 

# Das Fazit

All diese Gesichtspunkte spielen eine Rolle wenn es darum geht, die Schrift für einen starken, modernen und einzigartigen Markenauftritt auszuwählen.

Designer sollten hier den Bedarf genau analysieren und eine sorgsame Auswahl treffen. Und exakt abwägen, welcher dieser fünf Punkte für die Aufgabe, vor der sie aktuell stehen, der wichtigste ist. 

Über den Autor:
Jürgen Siebert ist Marketing Director bei Monotype, Berlin, wo er im Rahmen seiner Tätigkeit zahlreiche neue Events aus der Taufe gehoben hat, darunter die Typo Labs und die Brand Days. Zuvor war er Mitgründer und Chefredakteur des Magazins Page.

Übrigens: Monotype startet gerade die Instagram-Kampagne #HelveticaInTheWild. Dabei werden designaffine Fans weltweit aufgefordert, ihre Helvetica-Bilder mit dem Hashtag inklusive der Verlinkung @bymonotype zu posten. Die Aktion soll die ganze Vielfalt dieses 1956 entworfenen Schriftklassikers zeigen.


Autor: W&V Gastautor:in

W&V ist die Plattform der Kommunikationsbranche. Zusätzlich zu unseren eigenen journalistischen Inhalten erscheinen ausgewählte Texte kluger Branchenköpfe. Eine:n davon habt ihr gerade gelesen.