In China ist es ganz normal, im Gespräch zu fragen, ob man das WeChat-Profil seines Gegenübers scannen darf, die App generiert für jeden Nutzer einen individuellen QR-Code, den andere User scannen und sich so verknüpfen können. Diese Funktion ist mittlerweile dermaßen wichtig geworden, dass Visitenkarten mitunter nur noch den WeChat-QR-Code aufführen.

Schon heute ist bei WeChat Alltag, was für die meisten Europäer noch völlig undenkbar scheint: Chinesen vermischen private sowie geschäftliche Kommunikation und erledigen ihre Finanzangelegenheiten über die App. Während die meisten Deutschen sich schwer tun, ihren privaten Kosmos für Unternehmen mit deren Marken und Services zu öffnen, sind diese in China ganz selbstverständlich Teil der WeChat-Welt.

Das Tor für Unternehmen zum chinesischen Markt

Die App spielt für alle Unternehmen, die in China aktiv sind oder es werden wollen, eine essenzielle Rolle. Besonders beliebt sind Unternehmensseiten oder Markenauftritte, sprich die "Official Accounts". Eine Marke, die den WeChat Nutzern einen echten Mehrwert bietet, bindet die User an sich.

So stellt beispielsweise Nike Sporttipps, Laufrouten, Trainingspläne oder Fitness-Kampagnen all jenen zur Verfügung, die dem Sportartikelhersteller auf der Plattform folgen. Darüber hinaus lohnt sich für Unternehmen neben dem Buchen von Anzeigen auch die Kooperation mit Influencern, die sich zahlreich auf WeChat tummeln.

Das Logo-Design von WeChat

Das Logo-Design von WeChat

WeChat und der Westen

Die in China so erfolgreiche App hat die eigenen Landesgrenzen bereits überwunden. 100 Millionen User nutzen WeChat außerhalb Chinas. Trotzdem lässt der durchschlagende internationale Erfolg noch auf sich warten. Der Hauptgrund: Usern ohne chinesische Bankkarte bleibt die Bezahlfunktion WeChat Pay, welche für viele Nutzer einen wichtigen Nutzungsanreiz darstellt, verwehrt.

Darüber hinaus ist ein großer Teil der Inhalte komplett auf Chinesisch. Außerdem ist es wie überall: Man ist da, wo seine Freunde sind. Und in Deutschland sowie anderen Teilen Europas sind sie eben eher bei WhatsApp, Instagram, Facebook und Snapchat als bei WeChat.

Zudem ist WeChat – wie viele chinesische Medienprodukte – teilweise zensiert. Aus Sicht von westlichen Nutzern kommen daher Nutzungsvorbehalte ins Spiel. Welche Informationen die App über ihre User sammelt und wie viel davon der Internetgigant und WeChat-Betreiber Tencent mit der Regierung teilt, ist in den Nutzungsbedingungen für User außerhalb Chinas nachzulesen.

Westliche Konkurrenz ist nicht präsent

Der von Chinesen und Europäern unterschiedliche Umgang mit Kommunikation, Daten und Privatsphäre rührt vor allem daher, dass westliche Messenger- und Netzwerkdienste – wie Facebook, WhatsApp und iMessage – in China größtenteils nicht oder nur eingeschränkt verfügbar sind. Durch das späte, flächendeckende Angebot des Internets übersprang das Land die Ära der Desktops. Denn mit dem Zugang zum Internet standen gleichzeitig leistungsfähige Smartphones zur Verfügung, weshalb China direkt zum mobilen Internet überging.

Aber auch die Ausgestaltung der persönlichen Netzwerke unterscheidet sich klar von dem, wie wir in Deutschland miteinander kommunizieren: WeChat-Geflechte sind viel kleiner und privater als Freundes-Netzwerke auf Twitter- oder Facebook. Anders als bei Instagram und Co. kann man bei WeChat anderen Personen nicht folgen. Vielmehr bewegt man sich im eigenen Umfeld.

Die Personensuche ist stark eingeschränkt, wodurch sich die App privater anfühlt. Diese Vertraulichkeit wird von den Nutzern als klarer Vorteil empfunden und minimiert die Hemmnisse, die App auch zum Bezahlen, zur Terminvereinbarung und zur Geschäftskommunikation zu nutzen.

WeChat als Blaupause für unsere mobile Zukunft

Die unterschiedliche Messenger-Nutzung in Deutschland und China basiert auf verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre. Dennoch ist es zu früh zu behaupten, dass WeChat primär ein chinesisches oder asiatisches Phänomen darstellt. Denn steigende User-Zahlen außerhalb Chinas zeugen vom internationalen Potenzial des Messengers.

Sobald der Dienst seine Komfortfunktionen weltweit zur Verfügung stellt, vor allem in puncto mobile Bezahlmöglichkeiten und Services, könnte erneut Schwung in die Gewohnheiten der westlichen User kommen. Dies setzt jedoch die Bereitschaft der Nutzer voraus, sich auf die für sie neuartige Full-Service-App einzulassen.

Denn User aus westlichen Ländern sind an den Gebrauch verschiedener Apps seit vielen Jahren gewöhnt. Sie von dieser Gewohnheit abzubringen, wird einiges an Überzeugungsarbeit benötigen. Und sicher werden dann auch etablierte Player wie Facebook, Apple und Co. die Bühne betreten, um eine eigene All-in-one-Lösung zum Erfolg zu führen.

Ob und wann der Durchbruch der chinesischen App in Deutschland kommt, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall zeigt das Phänomen WeChat, in welche Richtung sich mobile Kommunikation grundsätzlich auch hierzulande entwickeln könnte. Die App dient dabei als Blaupause für unsere mobile Zukunft.

Die Autorin: Janette Lajara hat von 2010 bis 2015 in China gelebt und dort für Oliver Schrott Kommunikation auch das Pekinger Büro geleitet. OSK gehört zu den großen PR-Agenturen in Deutschland, mit zahlreichen Kunden aus der Groß- und Autoindustrie. Lajara hat also den Siegeszug von WeChat in China von Anfang an miterlebt und beobachtet, wie der Messenger Arbeitsabläufe, den privaten Austausch, Kommunikationsgewohnheiten und das Einkaufsverhalten nachhaltig auf den Kopf gestellt hat. 


Autor: Leif Pellikan

ist Redakteur beim Kontakter und bei W&V. Er hat sich den Ruf des Lötkolbens erworben - wenn es technisch oder neudeutsch programmatisch wird, kennt er die Antworten. Wenn nicht, fragt er in Interviews bei Leuten wie Larry Page, Sergey Brin oder Yannick Bolloré nach.