Die Corona-Krise ist ein verstörendes Ereignis ohne Beispiel. Jenseits der Kriegstraumata hat sich die Hyperinflation von 1923 ins kollektive Gedächtnis gebrannt (während in den USA die Deflation, das Gegenteil der Inflation, gefürchtet wird). Im Familienkreis erinnern sich die Älteren womöglich an die "autofreien" Sonntage nach dem Ölpreisschock 1973, Erzählstoff bis heute.

Die Erkenntnis, was der neuartige Corona-Virus bei uns anrichten kann, sickerte nur langsam in unser Bewusstsein. Es bedurfte des sichtbaren Schreckens in Norditalien. Es bedurfte auch solcher Artikel, die zeigen, wie aufklärend Information wirken kann.

Schwebende Realitäten

Die Kommunikation der deutschen Marken reicht derzeit von wackerem "Weiter so" bis zur Schockstarre. Aber bald werden Unternehmen die neuen schwebenden Realitäten in ihr Marketing einbeziehen müssen. Wie kann das glücken? Kann eine Markenkommunikation systematisch Sensibilität lernen – also jenes feine Gespür, das falsche Subtexte erkennt und aussortiert, markenschädigende Missverständnisse gar nicht erst entstehen und zur Ausspielung kommen lässt?

Was wir erleben, ist ein Schock, der viel tiefer geht und viel weiter reicht als die Finanzkrise vor einem Jahrzehnt. Wie verflochten die Weltwirtschaft ist und wie verletzlich unsere modernen Gesellschaften, wussten wir bereits. Jetzt spüren wir es. Und wir ahnen: Jederzeit könnte der nächste Virus auftauchen. Mit anderen Worten: Die Zeit post Corona, egal, wie lange es noch dauern wird, wird künftig immer auch eine Zeit ante Corona sein.

Als Gesellschaft werden wir uns an diese allgegenwärtige Bedrohung anpassen, damit leben lernen. So wie wir es gelernt haben, mit Terrorismus und asymmetrischen Kriegen zu leben. Das Wissen um die Bedrohung aber wird in der Wirtschaft grundlegende Veränderungen erzwingen. Geschäftsmodelle, Lieferprozesse, Mobilität, Kommunikation – jeder Teilbereich steht auf dem Prüfstand. Zudem wird ein dynamischer Modernisierungsschub einsetzen, der die Digitalisierung enorm beschleunigen wird. "Remote Work" mag für Digital Nomads längst Alltag sein, für den großen Rest der Dienstleistungs- und Angestelltengesellschaft war dies bislang Neuland. Die breite Akzeptanz von "Home Office" wird sich nicht nur durchsetzen, sie wird zur Folge haben, dass E-Commerce in Zukunft eine weitaus größere Rolle einnehmen wird. Wer heute als Unternehmer noch glaubt, dass diese Krise einen Anfang und ein Ende hat, und sich die Dinge post Corona in alte Muster zurücksetzen lassen werden, unterschätzt deren Effekte massiv.

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Sehnsucht nach Sicherheit

Denn Menschen sehnen sich nach Sicherheit. Und Distanz und Digitalisierung bieten in unserer Zeit die höchste Sicherheit.

Wenn Börsen abstürzen, greifen viele Anleger zum vermeintlich krisensicheren Gold (auch wenn selbst das diese Tage von manchen panisch abgestoßen wurde). Für Marken gilt es, Gold zu sein, Solidität und Zuverlässigkeit auszustrahlen. Die Absagen von Konferenzen, Messeauftritten und Live-Events treffen dabei das strategische Marketing ins Mark: Das Schließen dieser Kanäle bedeutet den Verlust des direkten Kundenkontaktes. Zudem meiden viele Menschen den Gang zum Händler. Dieser Zustand könnte noch lang andauern, keiner weiß augenblicklich, wie lang. Wie lässt sich dieser Abriss in der Customer Journey überbrücken, wie können Marken Vertrauen und Bindungskraft auf Distanz erzeugen?

Ein schnell wirksames Instrument stellen neue digitale Storytelling-Ansätze dar, die agile Agenturen jetzt schon für ihre Auftraggeber entwickeln – sogenannte "Second Live"-Formate, die die weggebrochenen Messekontakte und Live-Events ersetzen. Hierbei handelt es sich um digitale Erzählformen, die trotz räumlicher Trennung Live-Erlebnisse lebendig und Produkte erlebbar werden lassen, die Vertriebsmarketing mit Entertainment verbinden. Alles mit dem Ziel, den Verbraucher vor seinem Bildschirm emotionale Nähe zu vermitteln und ihn stärker an die Marke zu binden.

Als nachhaltige Maßnahme bietet sich die einzig verbliebene Form der haptischen Kommunikation an: Print. Wenn Print luxuriös dargereicht wird, als edles Magazin oder Buch, verstehen Kunden dies als Geste, als Wertschätzung auf Distanz. Mittels Digitaldruck sind zudem längst zu moderaten Kosten personalisierte Ausgaben möglich.

Emotionalität plus Sensibilität

Aus strategischer Sicht muss die künftige "Kommunikation auf Distanz" etwas Anspruchsvolles miteinander verknüpfen: eine hohe Emotionalität, um einen Bindungssog zu erzeugen, und in heikler Weltlage eine hohe Sensibilität, um der Marke nicht unbedacht Schaden zuzufügen.

Allerdings finden sich die Entscheider in den MarketingEtagen selbst in einer Ausnahmesituation wieder. Sie sind zum einen persönlich in Sorge um ihre Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Familien. Zum anderen kann die Lage in der nächsten Zeit für ihre Unternehmen existenzbedrohend werden. In Ruhe zu agieren, ist nur wenigen vergönnt.

Konfrontiert sind ihre Marken – als Sender wie Empfänger in der Redaktionellen Gesellschaft – mit einer fluiden medialen Öffentlichkeit, die derzeit zwischen Paranoia, demonstrativer Lässigkeit und Panik, zwischen Abschottungssehnsucht, hilfloser Ironie und Wissensmanie schwankt. Umfragen von Marktforschungsagenturen liefern dabei interessante Befunde. So hat GlobalWebIndex in einer Studie in den USA und UK herausgefunden, dass ausgerechnet diejenigen am meisten Angst haben, die am wenigsten Angst haben sollten: die Generation Z. Zugleich ist die Unwissenheit über das Wesen des Virus (und seine Folgen) in dieser Gruppe am höchsten.

Frappante Parallelen zeigen sich dabei zur Zuwanderungsdebatte in Deutschland: Die Menschen, die das Problem am wenigsten betrifft, fürchten sich am meisten. Woran das liegt? An der Unsichtbarkeit des Phänomens? An der Auswahl der Medien, die darüber berichten? Wird unsere Gesellschaft immer dünnhäutiger, je weniger sie sich harter historischer Erfahrungen bedienen kann?

Überdosis Weltgeschehen

In einem Artikel für die Zeit zitierte der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen jüngst einen Beitrag aus den Münchener Neueste Nachrichten vom 3. Januar 1919, also vor fast genau 100 Jahren: "Es ist seltsam, wie gelassen die Welt die furchtbare Influenza-Epidemie, die sie während der letzten Monate heimgesucht, hingenommen hat, und wie wenig Aufsehen auch die schlimmsten Sensationsblätter von ihr gemacht haben." Gemeint war die Spanische Grippe, der 1918/19 bis zu 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Waren die Menschen seinerzeit, zum Ende des Weltkriegs, noch ermattet vom Leiden, unfähig weiterer Anteilnahme? Pörksen erkennt stattdessen "Gelassenheit" und urteilt über unsere heutige Geistesverfassung: "Wir sind in eine Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit eingetreten, leiden an einer Überdosis Weltgeschehen." 

Wie dem auch sei: Das sind die Umstände, in denen sich Unternehmenskommunikation behaupten muss. Wie dringt sie durch, wie schafft sie es, nicht missverstanden zu werden?

Ins engere Blickfeld rückt hier eine Berufsgruppe, die bei ihren traditionellen Arbeitgebern, den Publikumsverlagen, seit Jahren eine Melange aus Tristesse und verlegerischer Ratlosigkeit erlebt: Journalisten. Und zwar nicht irgendwelche Journalisten, sondern gut ausgebildete, nüchtern wertende, versiert schreibende Journalisten. Journalisten beherrschen etwas, das die Redaktionelle Gesellschaft dringend braucht: Kompetenz im Bewerten, Gewichten und Beurteilen von Fakten, verständliches Aufbereiten der wichtigen Fakten.

Herausragende Autorinnen und Autoren werden im Marketing künftig wertvoller denn je sein. Was sie können, unterscheidet sich wesentlich von den Kreativen der Werbung. Werbung ist im besten Fall Verführung, im schlechten Fall plump. In Zeiten aber, in denen Fakten und Vertrauen zählen, erzielt Werbung – egal welcher Qualität – grundsätzlich eher wenig hilfreiche Effekte. Menschen wollen in Krisenzeiten ernst genommen werden, also: überzeugt werden. Während Werbung im Wesenskern Behauptungen liefert, vermögen journalistisch erzählte Geschichten Wahrhaftigkeit zu liefern.

Kenntnis, Handwerk, Charakterreife

Woran sind ausgezeichnete Autoren zu erkennen? Für sie ist selbstverständlich, was schon die Redner und Schriftsteller im antiken Rom beschäftigte: Das Aptum eines Kommunikationsaktes steht im Mittelpunkt aller Überlegungen – die Angemessenheit. Welcher Inhalt und welche Tonalität sind dem speziellen Thema angemessen, dem Publikum, dem Anlass, der Intention des Auftrags? Die Rhetoren Roms nannten ihre Fähigkeit, die richtigen sprachlichen, mithin: handwerklichen Entscheidungen zu treffen, "consilium", und die notwendige souveräne Urteilsfähigkeit, die dies ermöglichte, nannten sie "iudicium". Was damals als notwendig erachtet wurde, ist noch heute gültig: Kenntnis, Handwerk, Charakterreife.

Was diese herausragenden Autoren erstellen - sei es als Text, als Social Asset, als Film, als Second Live-Format – ist aber noch nicht sendefertig. Nun beginnt die Fact Checking Unit mit ihrer Arbeit. Auch hier sitzen erfahrene Journalisten. Sie prüfen die Beiträge nach fachlichen, ethischen, kulturellen und juristischen Kriterien und tragen ihre Einwände unabhängig und selbstbewusst vor. Was sie leisten, ist mit Brand Safety treffend beschrieben: Sie halten Schaden von der Marke ab. Nicht umsonst leisten sich die besten Redaktionen des Landes, wie der Spiegel oder der Stern, noch immer umfangreiche Dokumentationsabteilungen. Denn ihre Marken leben von der Glaubwürdigkeit ihrer Storys. (Und deswegen zeitigen Skandale wie jüngst die Relotius-Affäre oder einst die Hitler-Tagebücher auch solche Probleme.)

Das dürfte ein wirksamer Weg sein, Kunden auf Distanz emotional an eine Marke zu binden: durch bestes Brand Storytelling und mit der angeschlossenen Brand Safety Unit. Wenn es einen Begriff dafür brauchte, so wäre dies Brand Journalism.

Wann dieser Weg eingeschlagen werden sollte? Möglichst umgehend. Es gibt bereits erste Studien, die die weltweiten psychologischen Effekte der Pandemie untersuchen. Nach den dort beschriebenen Phasen der Leugnung, der Panik und der Isolation dürfte eine Neubesinnung einsetzen, dürften sich neue Möglichkeiten eröffnen. In China nähert man sich offenbar langsam dieser Phase des Aufbruchs. "Es besteht die Chance, Konsum neu zu entdecken und Marken können sich durch Selbstinszenierungen wieder ins Spiel bringen", heißt es in dem Artikel.

Einleiten lässt sich dieser Aufbruch bereits jetzt. Noch vor 20, 30 Jahren wären Firmen, deren Mitarbeiter wegen einer ansteckenden Krankheit nach Hause geschickt wurden, rasch nicht mehr lieferfähig gewesen. In digitaler Zeit ist dies anders. Wenn Agenturen, die vor allem fürs Denken bezahlt werden, den Fliehkräften Entschlossenheit und Innovationsgeist entgegensetzen, bleiben sie im besten Sinne lieferfähig. Ihre Brand Journalists können Unternehmen helfen, Wege aus der Schockstarre zu finden und trotz Distanz die Bindung zu deren Kunden zu stärken.

Zum Autor

Rüdiger Barth, 47, ist Co-Founder der Looping Group und Head of Content (Print) mit Sitz in Hamburg. Der Historiker arbeitete 15 Jahre beim Magazin Stern, zuletzt als Autor und Managing Editor und Mitglied der Chefredaktion. Danach wechselte er in die Chefredaktion des Wissensmagazins P.M. Unter seiner Verantwortung entstehen im Looping Studio Hamburg unter anderem die Produktion der vier Kundenmagazine von Mercedes-Benz. Das "Aptum" einer Geschichte beschäftigt den Dozenten der Henri-Nannen-Journalistenschule auch als Buchautoren. Seit 2018 veröffentlichte er "Die Totengräber" über das Ende der Weimarer Republik und den Roman "Das Haifischhaus", der im Writer´s Room der Looping Group gerade als Serienstoff aufbereitet wird.


Autor: Rolf Schröter

Rolf Schröter ist Chefredakteur der W&V und interessiert sich nicht nur deshalb prinzipiell für alles Mögliche. Ganz besonders für alles, was mit Design und Auto zu tun hat. Auch, wenn er selbst gar kein Auto besitzt.