Herausforderung Selbstorganisation

Der Weg zum agilen Modell führt über eine zentrale Komponente: das selbstorganisierte Team. Die Mitarbeiter sollen ein hohes Verantwortungsgefühl für das Produkt sowie den Prozess dorthin entwickeln. Ein offener Umgang mit Fehlern in einer aktiven Feedback-Kultur gehört ebenso dazu wie die Haltung, dass ein Produkt nie perfekt sein kann. Die Motivation dahinter: Schnellere und erfolgversprechendere Produktanpassungen sollen möglich sein – und das Team durch Selbstorganisation zur Höchstleistung kommen.

Die Arbeit mit verteilten Teams ist oft schon im klassischen, nicht-agilen Projekt eine Herausforderung, sei es durch verschiedene Zeitzonen, sprachliche Hürden oder allgemeine kulturelle Unterschiede. Durch die geforderte Selbstorganisation der Teams im agilen Modus wird die Hürde für erfolgreiche Projekte nun noch höher. Dann lieber gleich auf internationale Teams verzichten? In vielen Branchen ist dies schlicht keine Option. Allein im Mittelstandsbarometer 2017 von Ernst & Young gaben über 75 Prozent der befragten Unternehmen an, Schwierigkeiten bei der Suche nach Fachkräften zu haben. Diese Lücke kann schon rein statistisch durch Personalsuche im Ausland oder durch die Auslagerung dorthin leichter geschlossen werden als in Deutschland.

Japan – einen Schritt voraus

Doch wie lassen sich solche internationalen Teams optimal in die neuen agilen Strukturen einbinden? Wie schon in vielen anderen Managementbereichen lohnt auch hier ein Blick nach Japan. Dort gibt es die sogenannten "vertikalen Keiretsu". Das ist eine Art von Unternehmenszusammenschluss zwischen Produzenten und Zulieferern, bei dem ein Unternehmen (wie etwa Toyota) seine Zulieferer so einbindet, dass diese durch eine sehr enge Zusammenarbeit möglichst kostengünstig und innovativ produzieren. Für agil arbeitende Organisationen sind vor allem folgende Punkte nachahmenswert:

  1. Langfristige Beziehungen sind wichtiger als kurzfristige Optimierung. Das kann zum Beispiel heißen, dass eine zeitweilige Qualitätsminderung in Kauf genommen wird (etwa wenn durch noch nicht richtig eingelernte Mitarbeiter erhöhte Ausschussquoten oder Fehlerraten entstehen), wenn dafür langfristig Kosten eingespart werden können (also diese neuen Mitarbeiter nach der Einlernphase beispielsweise deutlich innovativere Produktverbesserungsvorschläge einbringen als andere Teams).
  2. Es wird viel Wert gelegt auf den Aufbau persönlicher Beziehungen zwischen den Mitgliedern der verteilten Teams. Dazu gehört zum einen die auch heute schon häufig praktizierte temporäre Co-Location: Mitarbeiter verbringen eine gewisse Zeit – meist einige Monate – am Standort eines anderen Teams. Darüber hinaus geht es auch darum, sich die Arbeitsbedingungen am anderen Ort im Detail anzuschauen, etwa, indem Mitarbeiter in verschiedenen anderen Teams hospitieren und dabei die Arbeitsabläufe und Randbedingungen direkt nachvollziehen und dokumentieren können.
  3. Gerade in Bezug auf Offshore-Standorte wird darauf geachtet, die Teams bevorzugt mit der Herstellung komplexer Systeme und nicht nur mit Einzelkomponenten von Systemen zu beauftragen. So wird zum Beispiel nicht allein das Testen der Softwarekomponente eines Motors in ein Offshore-Team ausgelagert, sondern die Entwicklung der kompletten Hard- und Software des Motors in dessen Hände gegeben. An dieses Vertrauen geknüpft ist die Forderung, dass das beauftragte Team gemeinsam mit den anderen verteilten Teams an der ständigen Verbesserung von Produkten und Prozessen arbeitet – sich also aktiv einbringt und nicht nur passiv Aufträge entgegennimmt.
  4. Bei Problemen zwischen den verteilten Teams geht es vorrangig darum, diese gemeinsam durch Weiterentwicklung zu lösen. Ein offener Umgang mit Fehlern ist also ein Muss.
  5. Es gilt jedoch auch: Es werden konsequent nur die Teams gefördert und weiterentwickelt, bei denen es sich aller Voraussicht nach lohnt. Insgesamt geht es um eine Begegnung auf Augenhöhe mit hoher Leistungsforderung.

"Alte" Best Practices sind weiterhin gültig

Ergänzend sollten bereits bekannte Best Practices aus der Arbeit mit verteilten Teams beachtet werden. Dazu zählen etwa:

  1. Das Kick-off-Meeting sollte möglichst als "physisches" Treffen mit allen Beteiligten an einem Ort stattfinden. Später bieten sich Videokonferenzen an.
  2. Standard ist ebenfalls, zu Beginn die gegenseitigen Erwartungen auszutauschen, bei allen Beteiligten Klarheit über die Projektziele herzustellen und regelmäßige Feedbackrunden abzuhalten.
  3. Auch sollte das Team anfangs die bevorzugten Kommunikationswege (zum Beispiel E-Mail oder ein bestimmtes Chat-Programm) gemeinsam festlegen.
  4. Trivial, jedoch äußerst wirksam: Die Verfügbarkeit aller Teammitglieder sollte allen im Team bekannt sein. Dazu gehört der Austausch der normalen Arbeitszeiten und der Feier-, Brücken- und Urlaubstage.
  5. Im Idealfall gibt es außerdem Mitarbeiter im Team, die als "Brückenkopf" dienen können: Bei einem Projekt, das über Deutschland und Indien verteilt ist, kann ein indischer Mitarbeiter, der in Deutschland lebt und im dortigen Team arbeitet, einfach bei Kommunikationsschwierigkeiten zwischen beiden Teams vermitteln.

Im besten Fall entsteht so durch die Kombination neuer und alter Praxisratschläge eine Win-Win-Situation. Die internationalen Teams bekommen anspruchsvolle ganzheitliche Aufgaben übertragen und das beauftragende Unternehmen profitiert von den Vorteilen selbstorganisierter Teams: Kreativere Lösungen, schnellere Marktreife der Produkte und zufriedenere Kunden.

Über den Autoren: Dr. Simon Stäuber arbeitet als Director Project Management beim E-Commerce-Dienstleister Diconium Digital Solutions. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung sowohl im klassischen als auch im agilen Projektmanagement und über besondere Expertise in der Arbeit mit Offshore-Teams.


W&V Redaktion
Autor: W&V Redaktion

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