Eine gute halbe Stunde später schrieb die Frau, die sich den Angaben zufolge rund 50 Kilometer von dem Verteilzentrum in Edwardsville entfernt befand: "Der Tornadoalarm geht hier los." Das Versandzentrum antwortete: "Fahren Sie erst mal weiter. Wir müssen auf Anweisungen von Amazon warten." Man werde sie wissen lassen, falls sich die Situation ändere, und sei im Gespräch mit Amazon.

Die Rückkehr zum Lagerhaus: Routenverweigerung

Die Fahrerin schlug dann vor, zu ihrer eigenen Sicherheit zurückzukommen. "Hier weiterzumachen könnte das Auto in einen Sarg verwandeln. Ich habe noch eine Stunde Auslieferzeit vor mir. Und wenn ich auf das Radar gucke, ist die schlimmste Phase des Sturms in 30 Minuten direkt über mir." Der Vorgesetzte antwortete: "Es ist Ihre Entscheidung, wenn Sie zurückkommen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht als Maßnahme zu Ihrer eigenen Sicherheit angesehen wird. (…) Wenn Sie sich entscheiden, mit Ihren Paketen zurückzukommen, wird dies als Ablehnung Ihrer Route gewertet, was letztendlich dazu führen wird, dass Sie morgen früh keinen Job mehr haben."

Erst als die Unwetter eine Tür im Verteilzentrum aus den Angeln reißt, rät der Vorgesetzte sich in Sicherheit zu bringen. Tausende Menschen teilten den Textnachrichten-Verlauf auf Twitter und waren empört. Amazon geriet in einen Shitstorm.

Bei Amazon will man nun den Fall untersuchen

Eine Amazon-Sprecherin sagte Bloomberg: "Dies war eine sich entwickelnde Situation in einem weiten geografischen Gebiet und leider hat sich der Disponent des Lieferservice­partners nicht an die Standard­sicherheitspraxis gehalten." Der Vorgesetzte hätte die Fahrerin sofort anweisen sollen, Schutz zu suchen, als Tornadosirenen ertönten. "Während dieses Textaustauschs stellte das örtliche Amazon-Team sicher, dass jeder Lieferservice­partner seine Fahrer angewiesen hatte, vor Ort Schutz zu suchen und die Zustellung für den Abend einzustellen." Unter keinen Umständen hätte der Vorgesetzte der Fahrerin mit einem Jobverlust drohen dürfen, so die Sprecherin weiter. Amazon werde die Erkenntnisse aus den Textnachrichten nutzen, um die Richtlinien und Anweisungen für Lieferservice­partner und die Fahrer:innen zu verbessern.

US-Behörde für Arbeitssicherheit wird den Fall untersuchen

Dass selbst ein Amazon-Lagerhaus kein sicherer Zufluchtsort ist, wurde klar, als beim Einsturz des Lagers in Edwardsville sechs Menschen ums Leben kamen. Laut Bloomberg habe man in dem Lagerhaus nie für den Notfall geübt oder die Mitarbeiter:innen für einen solchen geschult. Die für Arbeitssicherheit zuständige US-Bundesbehörde hat inzwischen angekündigt, sich mit den Todesfällen im Amazon-Verteilzentrum in Edwardsville zu befassen. Eine solche Untersuchung findet routinemäßig statt, wenn Beschäftigte in Ausübung ihrer Tätigkeit sterben. Auch das viel diskutierte Handyverbot am Arbeitsplatz, das Amazon einführte, wird seit dem Vorfall wieder heftig diskutiert. Die Mitarbeiter:innen fordern eine Lockerung, um sich während der Arbeit über Extremwetter wie Tornados informieren zu können, davor gewarnt zu werden und Hilfe rufen zu können.

Jeff Bezos twitterte nach dem Vorfall eine Beileidsbekundung.

Diese wird nach all den Vorfällen und Skandalen in der Vergangenheit ohnehin nicht ernst genommen. Währenddessen macht ein weiterer Screenshot im Zusammenhang mit dem Tornado die Runde. In diesem berichtet ein Mitarbeiter, dass ihm der Konzern mit einer Strafe gedroht habe, sollte er nicht zu seinem Arbeitsplatz - dem zerstörten Lagerhaus - erscheinen.


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Autor: Marina Rößer

Marina Rößer hat in München Politische Wissenschaften studiert, bevor sie ihre berufliche Laufbahn in einem Start-up begann und 2019 zu W&V stieß. Derzeit schreibt sie freiberuflich von überall aus der Welt, am liebsten in Asien, und interessiert sich besonders für Themen wie Nachhaltigkeit und Diversity.