Gastbeitrag :
Wo Videostreamer bei der Customer Experience versagen
Eine gelungene Customer Experience ist auch beim Videostreaming die Erfolgsformel – flächendeckend umgesetzt wird sie aber noch nicht. Tobias Fröhlich, Geschäftsführer bei TeraVolt, erklärt, wo die etablierten Player noch Nachholbedarf haben – und wo die Chance für neue Anbieter liegt.
Der perfekte Kinobesuch hängt in erster Linie vom Hauptfilm ab. Daneben gibt es aber noch weitere Faktoren, die das Leinwanderlebnis entscheidend mitprägen: Wie teuer sind die Tickets? Wie viel Werbung läuft vor dem Film? Wie gut ist die Sicht vom jeweiligen Sitzplatz? Mit diesen Fragen müssen sich die Kinobetreiber auseinandersetzen, um ihre Kunden an allen Touch Points zufrieden zu stellen und vor allem eines sicherzustellen: die Customer Experience.
Gelingt das nicht, profitieren aktuell wohl vor allem Streaming-Dienste – doch auch sie müssen sicher der gleichen Herausforderung stellen. Netflix, Amazon Prime Video oder seit Neuestem auch Disney+ bieten zwar eine Vielzahl an Content, doch auf technischer Ebene ergeben sich so manche Stolpersteine, die mich als Zuschauer aus der Bahn werfen können. Beispielsweise immer dann, wenn ich eine Serie nicht an der Stelle fortsetzen kann, an ich beim letzten Mal aufgehört habe. Oder wenn ich mir bei jeder Folge das Serien-Intro anschauen muss und es nicht überspringen kann (vom Abspann ganz zu schweigen). Und natürlich, wenn Serverüberlastungen oder technischen Störungen den Dienst komplett lahmlegen. All das sind Fallstricke, die besagte Customer Experience massiv einschränken.
Dabei gewinnt der Grundsatz, die Bedürfnisse des Kunden an allen Touch Points der Customer Experience in den Mittelpunkt zu rücken, immer mehr an Bedeutung – und schon der kleinste Fehler kann den Nutzer vergraulen: Laut einer PwC-Studie würde einer von drei Kunden sich schon nach nur einer schlechten Erfahrung von einer Marke abwenden.
Kunde vor Stakeholder
Kein Wunder also, dass die Streaming-Plattformen ihrerseits die Customer Experience mehr und mehr in den Fokus rücken und die Interessen der Produzenten und Werbetreibenden hintenanstellen. So sorgte Ende Oktober die Meldung für Furore, Netflix könne schon bald seine Nutzer die Abspielgeschwindigkeit der Filme und Serien kontrollieren lassen. Schauspieler und Filmschaffende drohten, auf die Barrikaden zu gehen und wandten ein, dass durch einen solchen Schritt ihre Intentionen und ihr Erzähltempo egalisiert würden. Doch so manchem Bingewatcher dürfte die Vorstellung gefallen, doppelt so schnell wie bislang konsumieren zu können. Und was dem Zuschauer gefällt, danach wollen sich eben auch die Streaming-Dienste primär richten.
Mit dem Tempo-Feature, so es denn tatsächlich kommt, würde Netflix den Leitsatz „Nutzer vor Stakeholder“ jedenfalls beherzigen. Doch die oben genannten Beispiele zeigen, dass der Streaming-Dienst dies noch lange nicht auf allen Ebenen tut. Und Netflix steht mit seinen nicht gemachten Hausaufgaben nicht alleine da. Auch Amazon Prime Video, Sky oder Dazn kränkeln seit Jahren an vermeintlich kleinen Widrigkeiten. Diese wären auf technischer Ebene zwar häufig relativ leicht zu beheben, schränken die Customer Experience aber derzeit noch massiv ein.
Wo neue Player ansetzen müssen
Und genau da liegt die große Chance für neue Streaming-Anbieter, es mit den scheinbar unbesiegbaren Branchenriesen Netflix, Amazon und Co. aufzunehmen. Denn für neue Player können die Fehler der etablierten als eine Blaupause dienen: So sollte man es nicht machen.
Disney+ integrierte etwa gleich zu seinem US-Start Mitte November eine Funktion, auf die Netflix-Abonnenten bislang vergeblich warten: Die Möglichkeit, Autoplay Previews auszublenden, sodass eben nicht für jeden Titel, auf dem die Nutzer kurz verharren, eine bildfüllende Vorschau startet. Dafür leistete sich der Mauskonzern besagten Kardinalfehler: Aufgrund von überlasteten Servern schauten viele Nutzer schon zum Start in die Röhre.
Aber einer Institution wie Disney dürfte selbst einen solchen Fauxpas verschmerzen. Eine besonders gute Customer Experience zu bieten ist aber vor allem für „kleine“ Anbieter, die neu in den Markt einsteigen, absolut entscheidend. Joyn, TV Now und Co. können Netflix, Amazon und Disney sicher nicht durch ihre Content-Vielfalt oder ihre Eigenproduktionen ausstechen. Wenn sie es aber schaffen, eine Customer Experience zu kreieren, die an allen Touchpoints den Nutzer zu 100 Prozent zufriedenstellt, dann haben sie eine echte Chance, sich einen Vorteil gegenüber den Branchenriesen zu erarbeiten. Wie bereits erwähnt, dürfen sie dabei im Zweifel keine Rücksicht auf die primären Interessen von Produzenten und Werbetreibenden nehmen. Denn im zweiten Schritt haben auch sie als Stakeholder ein indirektes Interesse an einer guten Customer Experience, da sie neue Nutzer an eine Brand heranführt und vor allem langfristig bindet. Entscheidend ist aber, dass die neuen Streaming-Anbieter entsprechende Maßnahmen sofort einleiten. Denn aktuell ist bei Netflix und Amazon eben noch lange nicht alles ausgereift.
Über den Autor:
Tobias Fröhlich ist Geschäftsführer der inhabergeführten Agentur TeraVolt. Das 2006 gegründete Unternehmen aus Hamburg hat sich auf digitale TV-Produkte und -beratung spezialisiert.