Wer sich das Statement von Anne Spiegel in ganzer Länge anhört, wer Mensch ist, wird während der langen Rede mehrfach schlucken müssen. Da ist ein Mensch bewegt, angefasst, traurig, ängstlich und echt. Eine starke Frau zeigt Reue, sie zeigt Schwäche – und sie muss sich im Jahr 2022 dafür entschuldigen, dass ihr die Familie wichtiger war als der Job.

Ernsthaft? In 2022? Wer sich dann durch den Dschungel des medialen Anne-Spiegel-Bashings kämpft, wer modern denkt und lebt, wird zwangsläufig immer fassungsloser. Ich lasse an dieser Stelle bewusst die Hetze von Bild & Co. weg, um diesen Formaten und dem Hass der sozialen Netzwerke hier nicht noch mehr Raum zu geben.

ZDF: Der Kommentar eines alten weißen Mannes

Spätestens aber beim Kommentar des Redaktionsleiters des ZDF Heute Journals, Wulf Schmiese, wird in nur einer Minute seines Aufsagers klar: Auch Teile des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens sind zurück in die 1950iger-Jahre gefallen. Es ist der Heute-Journal-Chef selbst, der das Bild des alten weißen Mannes zeichnet:

„Ja, das ist hart und ungerecht. Insbesondere für Mütter kleiner Kinder. Doch in diesem speziellen Fall hätte dennoch klar sein müssen: Das Amt geht vor.“ Und Schmiese legt noch nach: „Mit ihrem Auftritt gestern hat Anne Spiegel zumindest offenbart, was viele empfinden, die Karriere und Kinder wollen: heillose Überforderung. Wer immer ihre Nachfolge antritt, sollte das nicht vergessen.“ 

Wohin man auch sieht, Deutschland feiert zu großen Teilen den Rücktritt der Ministerin. Im Vordergrund steht nun die Empörung. Auch das können Deutschland und seine Medien hervorragend. Jetzt geht es um ein Übergangsgeld, das ihr schlicht zusteht. Aber auch hier brüllt die Meute erneut: Stellt sie an den Pranger. Der Medien-Sound spielt ein ähnliches Lied.

Eine Familienministerin darf ihre Familie nicht vor den Job stellen

Wohin sind wir eigentlich inzwischen gekommen? Wie weit am Abgrund sind wir selbst? Da steht eine Person am selbigen, weil sie Angst hatte zu sagen, dass ihr Mann schwer krank war, dass Corona die ganze Familie stark belastet hat, dass sie glaubte, stark sein zu müssen. Ganz einfach machen es sich die, die Anne Spiegel der Lüge bezichtigen. Sie verwechseln dies mit der Angst einer Spitzenpolitikerin, sich Schwäche eingestehen zu müssen. Wie bitter ist das bitte?

Dazu mixt man in Deutschland einen toxischen Schuss Gnadenlosigkeit. Denn, so ist der Sound: Eine normale Frau darf die Familie vor den Job stellen, eine Ministerin, und zudem noch die Familienministerin darf das nicht. Gerade sie hätte den Raum haben müssen, genau das zu tun. Das wäre ein Segen für eine moderne Arbeitswelt gewesen, zudem ein wichtiges Zeichen für die „Grüne Marke“.

Die Grünen demontieren sich selbst

Es hätte den Grünen etwas ganz wichtiges in Sachen Markenpflege gegeben: Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Stattdessen demontiert sich die Partei weiter selbst. In einem Statement von Partei-Chefin Ricarda Lang am heutigen Dienstag heißt es, dass die Nachfolgerin für Anne Spiegel schnellstens präsentiert werden solle. Die wichtigste Anforderung sei, dass die Person Verantwortung für Familien, Kinder und die offene Gesellschaft übernehme.

Na dann: Holen Sie Anne Spiegel zurück, Frau Lang! Das würde den Weg zur einer offeneren Gesellschaft sicher fördern. Und sie müssten nicht einmal ihre Homepage überarbeiten. 

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Autor: Mike Kleiß

Mike Kleiß ist Gründer und CEO der Kommunikationsagentur GOODWILLRUN. Für Focus-Online schreibt der passionierte Läufer als Kolumnist, in seinen Podcasts spricht er über Hunde und Fussball. Als Kommunikations-Stratege berät er internationale Marken. Der gelernte Journalist lebt für Marken und Medien, und darüber schreibt er regelmäßig bei W&V.