Interview mit Christian Waitzinger:
"Wir brauchen weniger Mad-Men-Agenturen"
Christian Waitzinger, VP bei Sapient Razorfish, hat keine Angst, dass Kreative ihre Jobs verlieren, weil künstliche Intelligenz sie ablöst. Aber er fordert radikal neue Strukturen.
Das Ende der Werbung, wie wir sie kennen, und die daraus resultierenden neuen Anforderungen der Kunden veranlassen Agenturen, ihre Einstellungspraxis und ihre Organisationsstrukturen zu überdenken. Warum also nicht einmal einen studierten Philosophen beschäftigen, wenn es um die künftige Kommunikation zwischen Mensch und Maschine geht? Christian Waitzinger, Vice President und Executive Creative Director bei Sapient Razorfish Kontinentaleuropa, sprach mit W&V über die Rolle der Kreativen und das nötige Rüstzeug für Agenturen in Zeiten der digitalen Transformation.
Wo sind Sie in 20 Jahren?
Die nächsten 20 Jahre werden bestimmt interessant: Die Digitalisierung wird uns zwingen, immer neue Skills zu erlernen und kollaborativer zu arbeiten als bisher. Ich befürchte aber nicht, irgendwann einmal durch einen Computer ersetzt zu werden. Kreative werden auch künftig eine Daseinsberechtigung haben, da Algorithmen nie kontextbasierte Ideen entwickeln oder sich intuitiv in einen Menschen hineinversetzen werden können.
Wie wird sich in dieser Zeit das Marketing verändern?
Marken müssen verstehen: Das klassische Marketing ist tot, während Services immer wichtiger werden. Produktbotschaften funktionieren oft nur noch im Kontext von Services. Statt des TV-Spots geht es hin zur Content Creation. So wie es etwa Red Bull macht. Das Unternehmen hat es hervorragend geschafft, seine Zielgruppe zu definieren und nicht die Produkte selbst zu vermarkten, sondern interessante Inhalte rund um Extremsportarten zu erstellen.
Was bedeutet das für Agenturen?
Agenturen können nicht weitermachen wie bisher und nur sagen "Na ja, wir machen jetzt auch ein bisschen AR oder VR". Wenn die Branche jetzt nicht anfängt, über diese Dinge nachzudenken, sieht sie in drei bis vier Jahren alt aus.
Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich nach Cannes komme und es dort um die neuesten technologischen Trends geht – wie Virtual Reality, die Apple Watch oder Hololens. Meistens versuchen sich die Player als First Mover zu präsentieren. Sie vergessen aber dabei zu definieren, was sie mit diesen Innovationen für einen Mehrwert erreichen wollen.
Wir haben noch nicht alle Antworten, aber eines ist sicher: Wir brauchen weniger Mad-Men-Agenturen, dafür müssen Technologie, Kreation und Beratung enger zusammenwachsen. Kreativität liegt nicht allein in der Verantwortung des Kreativ-Departments. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen man ein Art-Copy-Team ins stille Kämmerlein gesetzt hat, um über eine tolle Idee zu brüten.
Der klassische Texter dankt also ab?
Es werden neue Berufsfelder und neue Berufsbezeichnungen entstehen. Wir müssen raus aus den Schubladen. Die Jobprofile des Copy Writers, Designers oder Content Developers werden sich zunehmend vermischen. Daneben brauchen wir Leute, die ein breites Verständnis haben von Design, Kreation und Technologie und die auch beraterisch tätig sein können.
Außerdem sehe ich eine zunehmende Konzentration auf spezifische Branchen. Unternehmensberatungen wie Accenture und Deloitte gehen diesen Weg schon eine ganze Weile. Jetzt sollten auch Agenturen Branchen-Know-how aufbauen – sei es im Finanzbereich oder im Retail. Agenturen müssen die Probleme einer Industrie verstehen, um zu wissen, wie sie sich transformieren muss.
Haben dadurch Quereinsteiger bessere Chancen?
Auf jeden Fall. Diese neuen Berufsfelder sind viel breiter angelegt, etwa wenn es um den Bereich Voice geht. Vielleicht arbeiten wir bald mit Script Writern zusammen, die zuvor das Drehbuch einer Sitcom oder einer TV-Serie geschrieben haben. Wir brauchen Impulse aus anderen Industrien. Warum nicht auch einen Philosophen ins Team holen?
Agenturen und Unternehmen müssen sich beide der digitalen Transformation stellen. Wer hat da derzeit die besseren Karten?
Große Unternehmen haben es grundsätzlich schwerer als Agenturen, sich auf die digitale Transformation einzustellen. Das liegt vor allem daran, dass Konzerne noch immer mit über Jahre gewachsene Strukturen und Silos zu kämpfen haben, die eine übergreifende Zusammenarbeit erschweren. Diese Strukturen machen sie zudem langsam. Im digitalen Zeitalter ist aber Geschwindigkeit ausschlaggebend, um sich den ständig ändernden Kundenanforderungen und der zunehmenden Anzahl von Plattformen und Technologien stellen zu können. Das ruft Startups wie Airbnb und Uber auf den Plan, die branchenübergreifend die etablierten Marken angreifen. Und diese mitunter vom Markt verdrängen.
Agenturen haben es leichter, weil sie in der Regel klein und agil sind. So können sie Veränderungen schneller und effizienter aufnehmen und umsetzen als größere Wirtschaftseinheiten. Dies gilt insbesondere für uns bei Sapient Razorfish – Transformation steckt in unserer DNA. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Branche so schnell entwickelt, dass wir es gewohnt sind, diesen Wandel mitzugehen.
Für Netzwerke wird es künftig relevant werden, sich schnell von Disziplin-Silos zu verabschieden und die individuellen Skills ihrer einzelnen Agenturen und Mitarbeiter zusammenzubringen. Bei der Publicis Groupe tun wir dies bereits und sind schon gut vorangekommen. Wir werden kollaborativer, um unsere Kunden besser beraten zu können.
Christian Waitzinger ist seit August 2015 als Vice President und Executive Creative Director Kontinentaleuropa für die Leitung des Kreativteams bei Sapient Razorfish verantwortlich. Sapient ist seit 2014 Teil der Publicis-Gruppe. Vor seinem Wechsel zurück nach Deutschland war der Stuttgarter lange Jahre im Ausland für Sapient tätig, unter anderem in New York, London, Los Angeles, Miami und Singapur. Zu den Kunden des preisgekrönten Kreativen zählen VW, Bosch, Hyundai, Porsche und Lufthansa.